Als Petra an diesem letzten Dienstag im August zum Tagesaufenthalt für obdach- und wohnungslose Menschen an der ehemaligen Wartburgschule kommt, hat sich bei ihr längst das Gefühl breit gemacht, dass es das letzte Mal sein wird. Bereits vor Wochen hatte die Stadt angekündigt, den Betrieb an der Von-Esmarch-Straße in Münster-Gievenbeck am 31. August endgültig zu schließen. Petra sagt, sie sie sei traurig darüber, und wenn sie daran denkt, dass es hier nicht weitergehen soll, steigt vor allem Wut in ihr auf. „Wo sollen die Leute, die nicht genug Geld haben, denn jetzt hin?“, fragt sie. „Wo kriegen sie künftig noch ein Frühstück oder Mittagessen?“
Petra, 66 Jahre alt, eine Frau mit wuscheligem weißem Haar und Gehstütze, hat in den vergangenen Monaten regelmäßig die Corona-bedingten Zusatzangebote der Stadt aufgesucht. Aus Amelsbüren ist sie mit dem Bus anfangs zum Pfarrer-Eltrop-Heim an der Wolbecker Straße gefahren, dann in die Zeltstadt am Albersloher Weg, und nachdem auch diese im Herbst des vergangenen Jahres geschlossen wurde, zum Tagesaufenthalt in der Sporthalle der ehemaligen Wartburgschule. Fast jeden Tag. Wann immer es ging. „Und es fühlt sich komisch an, dass das künftig nicht mehr so sein soll.“
Enttäuschung und Wut
Wie Petra denken viele andere an diesem warmen Spätsommertag. Die Gefühle am Treff an der Von-Emscher-Straße liegen irgendwo zwischen Ratlosigkeit, Enttäuschung und eben Wut. Denn der Tagesaufenthalt bot Bedürftigen in der Corona-Zeit die Möglichkeit, zu duschen oder für wenig Geld etwas zu essen zu bekommen. „Das wird viele hart treffen“, sagt einer, der seinen Namen nicht öffentlich lesen möchte. „Die da oben“, meint er, „haben überhaupt kein Verständnis dafür, dass es Menschen gibt, die auf solche Angebote angewiesen sind, weil sie nicht genug zum Leben haben.“
Die da oben. Das ist in diesem Fall die Verwaltung. Diese hatte wochenlang darauf beharrt, dass der Betrieb zum 31. August eingestellt wird und dabei wenig Hoffnung verbreitet, dass es anders kommen könnte. Zur Begründung hieß es, man wolle das ergänzende Angebot „rechtzeitig zurückzufahren, bevor die Nutzungsmöglichkeit der Sporthalle Wartburgschule entfällt. Deren Besitzübergang an die zukünftigen Berechtigten steht demnächst bevor“. Und: Andere geeignete Immobilien stünden nicht zur Verfügung.
Die Zusage für das Grundstück hat Lidl erhalten. Der Discounter will auf der rund 12.000 Quadratmeter großen Fläche unter anderem Wohnraum schaffen und eine Kita errichten. In dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäudekomplex soll zudem ein Lidl-Markt einziehen. Wie das digitale Magazin RUMS berichtete, sei das nach dem geltenden Baurecht an dieser Stelle allerdings so gar nicht möglich. Und das heißt: Die Stadt müsste das Recht ändern, sogar auf mehreren Ebenen.
Kritik aus Regelbetrieben
Bereits am 22. Juli hat die SPD-Fraktion einen Fragenkatalog zur Schließung an das Sozialamt geschickt, in dem es unter anderem genau darum ging, wann denn das Grundstück, auf dem die ehemalige Schule samt Turnhalle steht, überhaupt übergeben werden würde. In der Antwort von Sozialdezernentin Cornelia Wilkens an die SPD fünf Tage später heißt es, sie habe die Anfrage an das Stadtplanungsamt mit der Bitte weitergeleitet, der Partei eine Antwort zuzuleiten. Am 18. August hat sich auch die CDU-Fraktion mit einem Fragenkatalog an die Sozialdezernentin gewandt – mit der konkreten Nachfrage, ob es zu der SPD-Frage nun eine Antwort gebe. Die gab es offenbar nicht, Wilkens verweist in ihrem Antwortschreiben erneut auf das Stadtplanungsamt. Und seitdem ist offenbar nichts mehr passiert.
Die Verwaltung blieb dennoch bei ihrem Standpunkt, der Tagestreff werde zum 31. August schließen und der Übergang in die Regelangebote müsse entsprechend rechtzeitig vollzogen werden. Doch genau dort, bei den Regelangeboten stieß die Entscheidung auf großen Widerstand.
Weil viele Einrichtungen angesichts der Corona-Maßnahmen ihren Betrieb nach wie vor nur eingeschränkt anbieten können und noch gar nicht wissen, wann eine Rückkehr zur „Normalität“ überhaupt möglich sein wird, werde die Schließung zu einem erhöhten Druck im Hilfesystem führen, warnte etwa Matthias Eichbauer vom Treffpunkt an der Clemenskirche. „Viele Menschen werden sich der Herausforderung stellen müssen, die alltäglichen Bedürfnisse wie Essen, Körperpflege, WC-Nutzung, Aufenthalt oder Kleiderwäsche nicht mehr wie letzthin gewohnt stillen zu können. Dieser Mehrbedarf könne von den etablierten Einrichtungen nicht aufgefangen werden.“
Eine große Entlastung
Thomas Mühlbauer, Leiter des Hauses der Wohnungslosenhilfe (HdW) meinte, der Tagesaufenthalt sei für die Einrichtung „eine große Entlastung gewesen“. Und Karsten Berndt, Fachbereichsleiter beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) Münster, der für die Stadt den Treff an der Wartburgschule organisiert hat, sagte, die Schließung sei der „absolut falsche Schritt. Für einen Teil unserer Besuchenden ist der Tagesaufenthalt alternativlos.“
Auch in Münsters Politik gab es angesichts der anstehenden Schließung sorgenvolle Mienen. Thomas Kollmann, SPD-Ratsherr und Vorsitzender des Sozialausschusses, sprach sich frühzeitig für den Erhalt des Treffs aus. Richard-Michael Halberstadt, ehemaliger CDU-Ratsherr und Sozialpolitiker, und Tobias Jainta, sozialpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, setzten sich ebenfalls dafür ein, dass eine Versorgung Bedürftiger über den Winter hinaus gewährleistet wird. Halberstadt schrieb noch eine Woche vor der geplanten Schließung einen „Brandbrief“ an Oberbürgermeister Markus Lewe. Und auch Grüne. Linke und Volt klangen ganz ähnlich. Und so kam es am 8. September, also nur sieben Tage nach der Schließung, doch noch zu einer Wende im Sozialausschuss.
In großer Einigkeit stellten Grüne, CDU, SPD, Volt und Die Linke einen gemeinsamen Antrag an die Verwaltung, den Tagestreffpunkt übergangsweise wieder ins Leben zu rufen. Wie die Westfälischen Nachrichten einen Tag später aus dem Ausschuss berichteten, habe sich die Verwaltung allerdings zunächst noch quergestellt. Demnach soll die Sozialdezernentin Cornelia Wilkens, so schreiben es die WN, den Parteien mitgeteilt haben, dass es keine Möglichkeiten gebe, das Angebot kurzfristig weiter zu finanzieren.
Verlängerung bis 31. März 2022
Die Politik fasste noch während der Sitzung einen Ergänzungsantrag, der der Verwaltung eine Prüfung ermöglichte – mit dem Ergebnis, dass der Treff an der ehemaligen Schule am 17. September nun doch wieder geöffnet werden konnte. Von Standortproblematik und finanziellen Schwierigkeiten war keine Rede mehr. Das Angebot soll – wie zuvor mit Verpflegung, der Möglichkeit zum Duschen, Wäschewaschen und Handyladen – bis zum 31. März 2022 laufen und an sieben Tage die Woche erreichbar sein. Die Stadt sieht den Treff zudem als ein „Pilotprojekt für die Umsetzung der 3G-Regel für Tagesaufenthalte für Wohnungslose“. Zutritt erhält also nur, wer nachweislich geimpft, genesen oder getestet ist. Darüber hinaus soll es vor Ort ein regelmäßiges mobiles Impfangebot geben.
Und die Finanzierung? Die Kosten für den Tagestreff lagen vormals monatlich bei etwa 55.000 Euro. Das Geld kam aus der Corona-Nothilfe, war also städtisches Geld, das den aktuellen Haushalt aber nicht belastete. Darauf kann die Stadt nun nicht mehr zurückgreifen, und im aktuellen Haushalt sind keine Gelder für einen Betrieb wie an der Wartburgschule vorgesehen. Im Antrag der Parteien heißt es daher, die Finanzierung soll im laufenden Jahr durch nicht verausgabte Haushaltsmittel erfolgen. Auch Kosteneinsparungen seien denkbar. So gibt es seit der Wiedereröffnung beispielsweise keinen Sicherheitsdienst mehr, der zuvor rund 12.000 Euro veranschlagt hatte. Laut Verwaltung, so schreiben die WN, liegen die Kosten nun bei rund 35 000 Euro pro Monat.
Ein paar der Gründe, warum die Stadt den Tagesaufenthalt wieder geöffnet hat, führen zurück zum 31. August. Und sie führen zu Themen wie Einsamkeit und Abhängigkeit. An der Essensausgabe holt sich Petra gerade ein Brötchen belegt mit Käse und einen Kaffee und setzt sich an einen der Tische draußen vor der Turnhalle. Sie habe hier, wie schon zuvor am Albersloher Weg und im Pfarrer-Eltrop-Heim, viele Menschen kennengelernt, sagt Petra. Die Gespräche mit anderen Gästen oder den Mitarbeiter*innen des ASB, sagt Petra, während sie über das Display ihres Handys wischt, um ein bestimmtes Foto zu suchen, „haben mir auf gewisse Weise gutgetan und mir geholfen.“
Menschen finden einen Sozialraum
Karsten Berndt vom ASB sagt, der Tagesaufenthalt habe sich von einer Anlaufstelle für Wohnungslose zu einem offenen niedrigschwelligen Angebot auch für Menschen in prekären Verhältnissen entwickelt. „In der Turnhalle“, sagt er, „fanden die Menschen nicht bloß Schutz vor dem Wetter, sondern vielmehr einen Sozialraum, in dem sie tägliche Bedürfnisse und dem Wunsch nach Gesellschaft gerecht werden konnten.“
Als Petra das Bild schließlich gefunden hat, das sie gesucht hat, zeigt sie es stolz auf ihrem Smartphone. Es ist ein Foto, die Stadt hat es am 1. Juni 2020 mit einer Pressemitteilung veröffentlicht, das Petra gemeinsam mit Oberbürgermeister Markus Lewe und ein paar weiteren Personen in der Zeltstadt zeigt. Beide sitzen an einem Tisch, Markus Lewe im Gespräch mit einer anderen Frau, Petra mit einem Mittagessen vor sich. Sie sei angewiesen auf Angebote wie diese, sagt Petra. Zwar lebt sie zu diesem Zeitpunkt in einer kleinen Wohnung in Amelsbüren. Aber das Geld, das ihr im Monat zur Verfügung steht, „reicht nicht aus, um vernünftig über die Runden zu kommen“. Also sammelt Petra Pfandflaschen und Dosen, um sich ein bisschen was dazuzuverdienen – und fährt zum Tagestreff.
Um sich ein Bild davon zu machen, warum Bedürftige wie Arbeitslosengeld-II-Bezieher*innen auf solche Hilfsangebote angewiesen sind, reicht ein Blick auf ein paar Zahlen. Seit Januar dieses Jahres beträgt der Hartz-IV-Höchstsatz für Alleinstehende 446,50 Euro. Davon sind 154,78 für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke vorgesehen. Also umgerechnet durchschnittlich nur 5,09 Euro am Tag und bei drei Mahlzeiten täglich rund 1,70 Euro pro Essen.
Bedarf an Tagesangeboten
Harald Wölter, sozialpolitischer Sprecher der Grünen Ratsfraktion, sagt, die Besuchszahlen an der der Wartburgschule zeigten einerseits einen Bedarf an Tagesangeboten für Menschen ohne Wohnung auf. „Das Angebot wird allerdings auch von Menschen in prekären Lebenssituationen genutzt, die Kommunikation und Unterstützung suchen. Wir müssen auch für diese Personengruppen in Stadtteilen und Quartieren aktiv werden – etwa in Quartierstreffs und Quartiersstützpunkten sowie in Alten- und Senioreninnentreffs.“
Tatsächlich hat eine Erhebung des Sozialamtes ergeben, dass nur ein relativ geringer Anteil der Besucherinnen des Tagestreffs tatsächlich aus der Wohnungs- oder Obdachlosenszene stammt. Demnach nutzten etwa 45 Menschen täglich das Angebot. Knapp 70 Prozent davon gaben eine Wohnadresse innerhalb der Stadt an, etwas mehr 30 Prozent eine Adresse der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. „Dieses Phänomen haben wir bereits am Albersloher Weg wahrgenommen“, sagt Dagmar Arnkens-Homann, Leiterin des Sozialamtes. „Wir müssen uns deshalb fragen, warum ein Angebot, das eigentlich der Wohnungslosenhilfe zugeordnet ist, einen solchen Anteil an Menschen anzieht, die dieser Zielgruppe nicht zugehörig ist.“
Ein Aspekt sei dabei besonders aufgefallen, so Arnkens-Homann: Ein Großteil der Besucher*innen an der ehemaligen Wartburgschule hätte das Angebot am Albersloher Weg kaum genutzt. „In Gievenbeck“, sagt sie, „kamen stattdessen viele aus dem näheren Umfeld, sodass der Tagesaufenthalt eher nachgefragt worden ist wie ein Stadtteiltreff.“ Was zu der Frage führt: Gibt es in Münster überhaupt einen Bedarf an einer zentralen Anlaufstelle? Oder muss nicht eher die soziale Infrastruktur in den Stadtteilen „noch stärker auf diese Zielgruppe ausgerichtet werden“ und „durch niedrigschwellige Hilfen und verstärkte soziale Arbeit in den Quartieren der Vereinsamung und auch drohenden Obdachlosigkeit entgegengewirkt werden“, wie es auch parteiübergreifend im Sozialausschuss angeregt wurde?
Menschen abholen und Unterstützen
Sie halte nicht viel von einer zentralen Stelle in der Stadt, „in der sich die Armut dann in eine Reihe stellt und eine warme Suppe erhält“, sagt Arnkens-Homann. „Das ist nicht unser Ansatz. Unser Ansatz ist der, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind und sie dort zu unterstützen. Und zwar über eine stadtteilorientierte Sozialarbeit.“ Und so gehe es nun darum herauszufinden, warum einige Menschen nicht in die Einrichtungen – egal ob städtische, kirchliche oder Angebote der Jugend- oder Sozialhilfe – in ihrem Quartier gehen. „Das nehmen wir mit und das wollen mit den Trägern diskutieren“, sagt Arnkens-Homann.
Und das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die der Tagesaufenthalt mit sich gebracht hat: Dass neben Wohnungs- und Obdachlosen „auch die Belange von Menschen in prekären Lebenssituationen und denjenigen, die von einer Vereinsamung bedroht sind, in den Blick genommen werden“, wie Karsten Berndt zusammenfasst. Damit Menschen wie zum Beispiel Petra auch künftig eine Anlaufstelle finden.
Von Oliver Brand