Prinzipalmarkt Münster (Foto: Oliver Brand)

Münsters Altstadt soll weitgehend autofrei werden

Münsters Altstadt soll weitgehend autofrei werden. So sehen es die Pläne der Grünen und ihrer Koalitionspartner im Rat vor. Doch nicht überall stößt die Idee auf Gegenliebe. Eine Bestandsaufnahme.

Ausgrenzung“, „Jobabbauprogramm“, „grüne Ideologie“: Jule Heinz-Fischer kennt all die Vorwürfe, die in den letzen Wochen und Monaten von verschiedenen Seiten auf ihre Partei eingeprasselt sind, weil diese die Altstadt in Münster möglichst bis 2025 weitgehend autofrei machen möchte. Und manchmal ärgere sie das auch ein bisschen, sagt die verkehrspolitische Sprecherin der Grünen. „Was mich aber noch weit mehr stört, ist der Gesamtdiskurs. Nämlich dass das alles – gerade beim Thema Verkehrswende – doch gar nicht so schnell umzusetzen sei und man mehr Geduld brauche“, so Heinz-Fischer. „Aber jetzt ist nicht die Zeit für Geduld, denn sonst haben wir in einigen Jahren ein großes Problem – und das heißt Klimaerwärmung drei Grad plus.“

Die Vermeidung von klimaschädlichem Verkehr ist der eine Grund für die Pläne der Grünen. Zumal sich Münster das Ziel auferlegt hat, bis 2030 klimaneutral zu sein – also unter anderem die CO­2-Emissionen bis dahin mindestens um 70 Prozent sinken sollen. Gleichzeitig möchte die Partei aber auch die Aufenthaltsqualität steigern. „Unser Ziel ist eine bessere Aufteilung und Nutzung des öffentlichen Raumes“, sagt Heinz-Fischer. Denn weniger Autos bedeuten nicht nur weniger CO2-Emissionen, sondern auch weniger Lärm und mehr Platz.

Wo sich sonst mancherorts Pkw um Pkw durch die Altstadt schlängelt oder Gehwege zugestellt sind, könnte es fortan Grün- oder Spielflächen geben. Dazu sollen unter anderem Parkhäuser zu Quartiersgaragen für Anwohner*innen umfunktioniert und Parkplätze, die aktuell von Autos belegt sind, neu gestaltet werden. Und neben klassischen Geschäften könnte es mehr Handwerk, Kunst und Kultur geben. „Münster soll auch in Zukunft die Menschen in die Stadt locken, dafür braucht es aber ein Konzept einer attraktiven Innenstadt für alle“, sagt Heinz-Fischer.

Räumliche Vorherrschaft des Autos

„Stadträume sind für Menschen gemacht“, betont auch Philine Gaffron vom Institut für Verkehrsplanung und Logistik an der TU Hamburg, die sich mit Umweltgerechtigkeit, nachhaltiger Mobilität und ökologischer Stadtentwicklung beschäftigt. „Aber wir haben die räumliche Vorherrschaft des Autos in der Stadt seit sehr langer Zeit zementiert, im wahrsten Sinne des Wortes betoniert. Dabei ist der öffentliche Raum wichtig für das gesellschaftliche Leben. Es macht also keinen Sinn, dem Pkw dort Vorrang zu gewähren. Zumal Autos unverhältnismäßig viel Platz in Bezug auf ihre Nutzung benötigen.“

Tatsächlich wird ein privater Pkw einer Studie des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur zufolge durchschnittlich nur 60 Minuten am Tag bewegt. 23 Stunden am Tag steht es also ungenutzt herum und blockiert vor allem in der Stadt wertvolle Flächen. Dazu kommt: Der Kraftfahrzeugbestand in Deutschland nimmt seit 1991 kontinuierlich zu: Bundesweit fahren mittlerweile fast 48 Millionen Autos über die Straßen. In Münster waren im vergangenen Jahr mehr als 170.000 Kraftfahrzeuge gemeldet, 17 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren, und rund 300.000 Autos überqueren nach Angaben des Amtes für Mobilität und Tiefbau täglich die Stadtgrenzen in beide Richtungen.

Es gehe darum, Innenstädte künftig „gesund und attraktiv“ zu gestalten, sagt Gaffron. „Es geht dabei um Lärm-Belästigung, die an vielen Straßen in den gesundheitsschädlichen Bereich geht. Um Emissionen von Feinstaub und Stickoxiden. Um Verkehrssicherheit. Und eben um Klimaschutz, der von einer so enormen Dringlichkeit ist, dass uns etwa zehn Jahre bleiben, um eine Mobilitätswende hinzubekommen.“

Parking Day: Freizeitangebote statt Parkplätze

Wie eine viel befahrene Straße ohne Autos aussehen kann, zeigt unter anderem der sogenannte „Parking Day“. Dort, wo sich sonst die Fahrzeuge dichtgedrängt über den Asphalt bewegen und die Parkbuchten belegt sind, fanden sich zuletzt 2019 auf dem Hansaring und im vergangenen Jahr auf der Wolbecker Straße für einen Tag plötzlich jede Menge Menschen und Freizeitangebote. „Ich halte solche Angebote für sehr hilfreich“, sagt Gaffron. „Weil sie das Thema veranschaulichen und greifbarer machen.“

Gleichwohl ist sich Gaffron der Sensibilität einer „autofreien Innenstadt“ bewusst. Zumal Veränderungen durchaus auch negative Effekte mit sich bringen können wie die Verlagerung von Verkehrsflüssen auf andere stark befahrene Routen. „Das muss man im Auge behalten“, sagt Gaffron. Genau wie die Erreichbarkeit. „Es reicht nicht zu sagen, in diesem Bereich kann man nicht mehr fahren oder parken. Es muss auch entsprechende Alternativen geben.“ Was einen wieder zurück zum grün-rot-violetten Ratsbündnis nach Münster bringt.

Das Projekt LOOP wird in den Stadtteilen getestet. (Foto: Stadtwerke)

Dort haben Grüne, SPD und Volt bereits konkrete Vorstellungen vom Verkehr der Zukunft. So soll unter anderem die Fahrradinfrastruktur stetig erweitert und der ÖPNV „massiv verbessert“ werden. Heißt: „Taktverdichtung. Schnellere Busse aus weiter entfernten Stadtvierteln – also Expressverbindungen, die keine oder kaum Zwischenhalte haben“, erklärt Heinz-Fischer.

Auch das Projekt LOOP, eine Art Mini-On-Demand-Bus, könne im Erfolgsfall auf weitere Stadtgebiete ausgeweitet werden. „Dazu kommt mit den Mobilstationen ein verbindendes Element, das wir schaffen wollen“, sagt Heinz-Fischer. Also Verknüpfungspunkte zwischen verschiedenen Verkehrsträgern, an denen Autofahrer*innen unter anderem Car- und Bikesharing-Angebote nutzen oder auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen können. Der Hauptausschuss des Rates hat die Stadtverwaltung bereits damit beauftragt, ein Konzept zur Planung und zum Bau solcher Mobilstationen zu erstellen. Konkret geht es um die Standortsuche sowie ein Pilotprojekt im Bereich Nieberdingstraße.

Anbindung durch Münsterland-S-Bahn geplant

Für die Anbindung des Umlands sind Express- oder Schnellbusse sowie die geplante Münsterland-S-Bahn angedacht. „Ziel bei der Münsterland-S-Bahn ist eine eng getaktete Schienenverbindung, die alle 20 Minuten aus und nach Münster fährt“, sagt Heinz-Fischer, die allerdings auch zu bedenken gibt, dass dieses Vorhaben – zumindest bis es in seiner Gänze fertiggestellt ist – durchaus etwas länger dauern könnte. „Dafür braucht es zum Teil eine neue Schieneninfrastruktur, und da sind wir abhängig von Bund und Deutscher Bahn.“ Dass das gesamte Vorhaben einer weitgehend autofreien Altstadt bis 2025 umgesetzt sein muss, wie es wohl auch in den Koalitionsverhandlungen offenbar äußerst kontrovers diskutiert wurde, verneint Heinz-Fischer. „Das ist keine feste Zielmarke. Wenn wir es bis dahin schaffen, wunderbar. Aber das hängt auch nicht an ein, zwei Jahren. Deshalb steht im Koalitionsvertrag nun auch keine konkrete Zahl mehr.“

Auf wenig Gegenliebe stoßen die Pläne bei den politischen Gegnern. Münsters CDU-Vorsitzender Hendrik Grau erklärte in einem Statement vom 20. Januar: „Wenn wir die Stadt für Touristen, Besucher aus dem Umland, ältere Menschen und viele Menschen in den Außenstadtteilen quasi zusperren, wie das die Aktivisten in der grünen Fraktion faktisch fordern, dann hat das massive Konsequenzen: Unternehmen werden sterben und der von Amazon & Co. dominierte E-Commerce wird seinen Würgegriff um den Hals des hiesigen Handels noch verstärken“. Auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Jörg Berens übte Anfang Februar deutliche Kritik: „Das Ziel, die Innenstadt so schnell wie möglich autofrei zu machen, ist gerade mit Blick auf die stark von der Krise betroffenen Gastronomien und den Einzelhandel der falsche Weg.“

Jule Heinz-Fischer von den Grünen (Foto: Grüne)

Von „quasi zusperren“ kann allerdings nur bedingt die Rede sein. So sehen die Pläne der Koalition unter anderem vor, dass „Menschen mit Behindertenausweis, Anwohnerinnen, Handwerkerinnen und Lieferfahrzeuge (…) sowie spezielle Dienstleistungen wie mobile Pflegedienste“ auch weiterhin in die Altstadt fahren dürfen. Auch private Stellplätze und Garagen sollen bleiben. „Weitgehend heißt eben nicht null Autos“, sagt Heinz-Fischer. Dass die Idee dennoch kritisch beäugt werden darf, liegt in der Natur der Sache. Gerade wenn es um die Transformation geht.

CDU warnt: Umland nicht ausschließen

Dass die Grünen das Vorhaben als einen großen, zusammenhängenden Prozess sehen, die Reduzierung des Autoverkehrs und Bereitstellung neuer oder besserer mobiler Angebote also parallel gestalten wollen, bezeichnet Walter von Göwels, verkehrspolitischer Sprecher der CDU-Ratsfraktion in Münster „als den falschen Ansatz. Natürlich möchte jeder weniger Autos haben. Auch wir von der CDU haben uns da klar positioniert. Aber wir gehen einen anderen Weg. Wir sagen: Es braucht erst ein entsprechendes Mobilitätsangebot, dann kann man nach und nach die Anzahl der Autos verringern.“

Der Christdemokrat warnt darüber hinaus davor, das Umland und auch die Außenstadtbezirke zu vergessen: „Wir sind eine Region mit 1,6 Millionen Menschen. Diese Leute dürfen wir nicht ausschließen“, so von Göwels. Daher müsse die Altstadt weiterhin für alle Verkehrsarten erreichbar bleiben. Ansonsten drohten eine Entfremdung zwischen Innen- und Außenstadt sowie vor allem wirtschaftliche Konsequenzen. „Ich möchte eine Innenstadt mit Flair, mit Lebensqualität, mit Abwechslung im Handel und nicht dieses Durchgestylte, das man in jeder Stadt findet. Aber so etwas funktioniert nur, wenn die Dinge gut erreichbar sind. Und zwar für alle. Ansonsten blutet die Innenstadt irgendwann aus.“

„Wir müssen erste Alternativen für die Erreichbarkeit etablieren und dann können wir den Wandel einläuten.“

Michael Radau, Präsident des Handelsverbandes NRW

Der Einzelhandel steht einer weitgehend autofreien Altstadt derweil offenbar gar nicht so ablehnend gegenüber, wie es die Stimmen mancher Gegner und die Berichterstattung einzelner Medien bisweilen vermuten lassen. Natürlich gebe es Kritik und Sorgen. Aber man brauche auch in Münster „Wandel und Veränderungen“, sagt Michael Radau, Präsident des Handelsverbandes NRW und Vorstandsvorsitzender der SuperBioMarkt AG in Münster. Zu stark hat das Online-Geschäft dem stationären Handel in den vergangenen Jahren und zuletzt in der Pandemie zugesetzt. „Insofern ist es richtig, auch über eine autofreie Altstadt nachzudenken“, so Radau. „Was der Einzelhandel aber ablehnt: Einfach ein Verbot auszusprechen und dann zu schauen, wie man es löst. Wir müssen erst Alternativen für die Erreichbarkeit etablieren und dann können wir den Wandel einläuten.“

Gelinge dieser Spagat allerdings, sagt Radau, könne Münster am Ende sogar „eine Vorreiterrolle“ einnehmen, ähnlich wie es Kopenhagen getan hat, wo Fahrräder gegenüber Autos bereits seit Jahren in der Mehrheit sind. „Münster könnte exemplarisch für eine Altstadt mit einer tollen Atmosphäre und einer enorm hohen Aufenthaltsqualität stehen. Zumal genau das ohnehin enorm wichtig werden wird, da sich das Shopping-Verhalten weiter verändert.“

Was Radau meint: Stadtzentren werden in Zukunft nicht allein mit ihren Geschäften punkten, sondern vor allem durch ihr Freizeitangebot und den Erlebnischarakter. Das bestätigt unter anderem die Untersuchung „Vitale Innenstädte“ des Instituts für Handelsforschung in Köln. Demnach kommt bereits heute etwa ein Drittel der Befragten vor allem wegen Freizeitaktivitäten in die Innenstadt. Tendenz steigend.

Verödung der typischen Fußgängerzonen

„Man konnte bereits jetzt während der Corona-Pandemie ganz gut erkennen, dass die typischen Fußgängerzonen zunehmend veröden, einfach weil es keine zusätzlichen Verweilangebote gibt“, sagt Julia Jarass vom Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Umso wichtiger sei ein Mix aus Nutzungs- und nicht kommerziellen Angeboten, um einen längeren Aufenthalt in der Stadt attraktiv zu machen, auch wenn man nicht einkaufen möchte. Am Ende, und dafür gebe es viele Beispiele, seien auch die Ängste der Händler weitgehend unbegründet, sagt Jarass. „Es gibt natürlich Einzelfälle, aber verschiedene Studien gehen eher davon aus, dass weniger Autos gepaart mit einem attraktiveren Umfeld die Umsätze deutlich erhöhen.“

Das zeigen Beispiele wie Gent, Pontevedra, Madrid oder Oslo, in denen sich das Experiment „(weitgehend) autofreie Innenstadt“ zu einem Erfolgsmodell entwickelt hat und die Umsätze nach einer ersten Phase der Umgewöhnung stiegen. In Madrid beispielsweise kletterten die Verkaufszahlen im Weihnachtsgeschäft im Vergleich zum Vorjahr um 9,5 Prozent, wie eine Studie der Grossbank Banco Bilbao Vizcaya Argentaria ergab. Demnach zogen die gesperrten Zonen mehr Fußgänger an als gewöhnlich. Gleichzeitig sanken die Stickoxid-Emissionen um 38 Prozent und die Busse waren 25 Prozent schneller unterwegs als zuvor.

Auch andernorts stießen Feldversuche auf positive Resonanz. In München und in Wien gab es zum Beispiel eine Zustimmungsquote von rund 70 Prozent für eine Verstetigung gegeben, nachdem dort Straßen testweise für den Autoverkehr gesperrt wurden „Wenn das Konzept schlüssig ist und man die Menschen mitnimmt, kann man sie auch überzeugen“, sagt Jarass

Grüne und CDU behaken sich

Die Grünen betonen ihrerseits immer wieder, dass sie bei ihrem Vorgehen im Gespräch mit Einzelhändlerinnen, Gastronominnen und mit Bürger*innen bleiben wollen. Was aber ist mit dem politischen Gegner? „Eine Diskussion, eine Auseinandersetzung mit Vorschlägen der anderen Parteien gibt es derzeit schlicht nicht“, kritisiert CDU-Verkehrsexperte Walter von Göwels. „Es entsteht der Eindruck, dass nur die eine Meinung zählt und alles andere nicht interessiert. Natürlich haben sie jedes Recht dazu. Aber ich sehe darin eher eine Beratungsresistenz. Und da müssen sich die Grünen fragen, ob sie wirklich alle mitnehmen wollen oder eben nicht“, sagt er.

Jule Heinz-Fischer entgegnet: „Wenn die CDU davon spricht, wir würden ein ‚absolutes Parkverbot für die Altstadt‘ fordern, wird suggeriert, dass morgen alle Parkplätze und Parkhäuser geschlossen und gesperrt würden, wovon niemals irgendjemand bei den Grünen geredet hat. Zwischen solchen Tönen eine konstruktive Ebene mit der CDU zu finden fällt mir recht schwer. Versuchen wollen wir es aber natürlich trotzdem.“

Einer Umfrage des Bundesumweltministeriums und des Umweltbundesamtes zufolge möchte eine große Mehrheit der Deutschen jedenfalls nicht mehr so stark auf das Auto angewiesen sein. 79 Prozent wünschen sich eine Stadtentwicklung, die die Alternativen zum Auto stärkt. Noch seien die Städte aber „weit vom Idealbild entfernt – einer lebenswerten Umgebung mit kurzen Wegen, vielen Grünflächen, gesunder Luft, wohnsitznaher Versorgung und umweltfreundlicher Mobilität“, heißt es im Strategiepapier „Die Stadt von morgen“. Das Bundesamt schlägt daher vor, den Autoverkehr auf ein Drittel zu reduzieren, und sagt: Autofreie Stadtteile können ein Weg dahin sein.

Ob auch in Münster, wird sich zeigen. Im Rat wurden zuletzt immerhin 150.000 Euro für eine Planungswerkstatt zur Verfügung gestellt. In einem ersten Schritt sollen nun Königsstraße und Pferdegasse verkehrsberuhigt werden. Zudem wurden im Haushalt sechs Millionen Euro zusätzlich für Sanierung und Ausbau der Fahrradinfrastruktur sowie drei Millionen zusätzlich für die Beschleunigung des ÖPNV eingeplant. Es tut sich also was in Sachen weitgehend autofreie Altstadt.

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