Frank

Leben auf der Straße: Zwischen Traum und Wirklichkeit

Weil Frank Reinecker wohnungslos wurde, hat er sich am Mittelhafen eine Hütte gebaut und dort die vergangenen Monate verbracht.

Erst geht es an der Villa Kunterbunt vorbei, einem bunten Bretterzaun direkt neben dem Eingang. Dann biegt Frank Reinecker hinter ein paar Sträuchern und Blumen ab und erreicht den kleinen Platz mit einem gelben Sonnenschirm und einer Sitzgelegenheit. Reinecker nennt diesen Ort gerne seine Huckleberry-Finn-Ecke. Im Sommer, sagt er, habe er dort oft gesessen und aufs Wasser geschaut. Zwar nicht auf den Mississippi, auf dem Mark Twain seinen Romanhelden einst auf Baumstämmen hinunter treiben ließ. Dafür auf den Dortmund-Ems-Kanal.

Seit Anfang Mai lebt Reinecker, 40, am Mittelhafen in Münster. Er ist wohnungslos, seitdem er sein WG-Zimmer Anfang des Jahres gekündigt hat. „Ich wollte damals eigentlich woanders hinziehen“, sagt er heute. Doch als die Corona-Pandemie die Domstadt erreichte, traf sie auch Reinecker mit voller Wucht.

Durch den Lockdown verlor er seine beiden Nebenjobs in der Gastronomie und stand plötzlich ohne festes Einkommen da. Zwar halfen ihm ein Minijob in einem Supermarkt und Spargelstechen zunächst dabei, über die Runden zu kommen. Allein für eine Wohnung reichten die Einnahmen nicht. „Ich konnte das alles finanziell nicht mehr stemmen, also bin ich raus und habe im Zelt gelebt.“

Reinecker teilt das Schicksal mit Tausenden anderen

Reineckers Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell Menschen auf der Straße landen können, bei denen man sich es kaum vorstellen kann. Geboren in Hannover, landet er über Hameln und Berlin in Stuttgart. Nach der Schule studiert er dort Agrarbiologie an der Uni Hohenheim, geht dann nach Freiburg, wo er sein Studium kurz vor dem Abschluss abbricht und in die Gastronomie-Branche wechselt. Seit 2016 ist er in Münster.

Sein Schicksal teilt Reinecker mit Tausenden anderen Menschen in Deutschland. Aktuellen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) zufolge liegt die Zahl der Menschen ohne eigene Wohnung derzeit bei rund 678.000 Betroffenen. 41.000 davon leben ohne jegliche Unterkunft auf der Straße. In Münster gibt es etwa 800 wohnungs- und obdachlose Menschen. Die Pandemie habe die ohnehin schon schlechte Lage der obdach- und wohnungslosen Menschen noch einmal verschärft, warnt BAG-W-Geschäftsführerin Werena Rosenke. „Die Lage vieler ist prekärer geworden, als sie das vorher war.“

Er selbst habe die Tage und Nächte unter freiem Himmel allerdings gar nicht als so schlimm empfunden, sagt Reinecker. Vielmehr sei sogar „ein bisschen ein kleiner Jugendtraum“ in Erfüllung gegangen. „Mal auf der Straße landen und sich dort aus Materialien ein eigenes Heim gestalten, das war für mich schon immer ein reizvoller Gedanke.“ Und der Platz am Hafen, den er sich im Mai für sein Zelt ausgesucht hatte, bot dafür ausreichend Gelegenheit, gab es hier doch nur Schotter und Sand.

Die Entstehung der Villa Kunterbunt

Reinecker kaufte sich für ein paar Euro eine kleine Hacke und begann, den Boden aufzulockern und zu bewirtschaften. Er baute ein Beet, pflanzte Blumen und säte Rasen aus. Heute blühen an dieser einstmals kargen Stelle Studentenblumen, Schmetterlingsbäume und Gänseblümchen. Es gibt einen Kräutergarten, in dem Tomaten, Chili, Paprika, Basilikum und Rosmarin wachsen, einen kleinen Burgwall und ein Sonnensegel.

Zudem errichtete der 40-Jährige den bunten Zaun, den er zu seiner Villa Kunterbunt erklärte, legte einen Sandstrand auf der Kanalseite an, neben dem seine Huckleberry-Finn-Ecke liegt, und baute zum Schutz eine Hütte um sein Zelt. Die notwendigen Europaletten, Steine oder Bauabfälle sammelte er in unmittelbarer Nähe auf. Und je wärmer die Tage und je milder die Nächte wurden, desto mehr Spaß bereitete ihm das Leben da draußen.

Er habe in dieser Zeit viele Bekanntschaften gemacht, sagt Reinecker. Mal waren es Jugendliche, die nachts auf dem Heimweg von Partys einen kurzen Zwischenstopp bei ihm einlegten. Mal waren es benachbarte Camper oder Gleichgesinnte, die zum Grillen vorbeikamen oder ebenfalls am Mittelhafen verweilten. Reinecker war 13 Jahre lang Barkeeper, das ständige Miteinander gehörte zu seinem täglichen Leben. Die Begegnungen am Hafen nennt er daher seinen „Kommunikationsersatz, den ich einfach brauche und der durch den Jobverlust plötzlich weggefallen war“.

Ordnungsamt und Polizei kontrollieren

Im Laufe der Zeit hätten auch das Ordnungsamt, die Polizei und sogar der Nabu mal vorbeigeschaut. „Ich habe ihnen erklärt, dass ich hier Ordnung halte und alles aufräume“, so Reinecker. Daraufhin sei der „Daumen hoch“ gegangen. Bei der Stadt heißt es derweil, der Grund könne der Stadt, aber auch dem Bund gehören oder in Privatbesitz sein. Dauercamper würden vom Ordnungsamt auf städtischem Grund eigentlich „nicht geduldet, sie verstoßen gegen die Straßen-, Anlagen- und Aaseeordnung“.

Ein Stück weiter, am Albersloher Weg direkt gegenüber der Jovel Music Hall, besuchte Reinecker zudem regelmäßig die mobile Hilfseinrichtung, in der Wohnungs- und Obdachlose duschen und Toiletten nutzen und für kleines Geld etwas zu essen bekommen konnten. Mittlerweile ist die Tagesunterkunft zwar nach Gievenbeck umgezogen, Reinecker nimmt das Angebot aber weiterhin in Anspruch. Noch etwas wichtiger sei ihm der „Treffpunkt an der Clemenskirche“ gewesen. „Der Treff“, sagt er, „hat mich in den vergangenen Monaten besonders aufgefangen.“

Dass auch Reinecker bei all der Leichtigkeit, die ihn umgibt, zwischenzeitlich aufgefangen werden musste, hat viel mit dem zu tun, wie das Leben draußen wirklich ist. Dass der Sommer bekanntlich nicht ewig anhält, musste auch Reinecker hautnah miterleben. Der Herbst kam und mit ihm die Kälte. Schließlich machte sich Feuchtigkeit breit und Ratten suchten derart oft nach Essensresten, dass Reinecker nachts Brotstücke 20 Meter entfernt von seiner Hütte platzierte, um die Nager wegzulocken. Der Spaß ging nach und nach verloren.

Eindrucksvolle Erlebnisse bleiben

„Der Traum hat sich am Ende angenehmer angefühlt als die Wirklichkeit“, sagt Reinecker. Eine Erfahrung sei es dennoch wert gewesen. „Es gab so viele eindrucksvolle Erlebnisse und ich habe so viele Erfahrungswerte gemacht innerhalb kürzester Zeit, die ich so im alltäglichen Leben nicht gemacht hätte.“

Zurzeit hat er im HkH („Haus kurzfristiger Hilfe“) eine vorübergehende Bleibe gefunden. Das Ziel bleibt aber die Rückkehr in eine eigene Wohnung und ins Berufsleben. „Vielleicht mache ich mich selbstständig“, sagt Reinecker. Mit einer mobilen Cocktailbar für Firmen-, Hochzeits-, oder Geburtstagsfeiern zum Beispiel. Noch so ein Traum, den Reinecker gerne in die Wirklichkeit transportieren möchte.

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