Das letzte Konzert fiel auf einen Freitag. Am 13. März des vergangenen Jahres war es Bernd Barney Wewer, einem Rock ‘n‘ Roll-Rockabilly-Musiker aus dem Münsterland, vergönnt, als bislang letzter Künstler die Bühne in der Metro Rockbar in Münster zu betreten. Kurz darauf folgte der erste Lockdown und mit ihm eine Zeit der Stille, die bis heute anhält. „Plötzlich“, sagt David Sandner, „ging gar nichts mehr.“
Sandner arbeitet seit 40 Jahren in der Kultur- und Veranstaltungsbranche. 1991 übernahm er die Metro Rockbar und ließ sie nicht mehr los. Rund 40 Konzerte organisiert er mittlerweile pro Jahr, dazu kommt einmal im Monat die Metroparty. Über den Sommer, als die Infektionszahlen gerade etwas abflachten, gab es in der Location an der Mauritzstraße 30 zumindest noch ein wenig Außengastronomie. Sogar eine „ganz kleine Party“ konnte abgehalten werden. Doch seit November herrscht nun erneut völliger Stillstand.
„Ich bin aus Leidenschaft Veranstalter und habe sehr gerne mit Menschen zu tun. Das macht es umso schwieriger“, sagt Sandner. Der Austausch mit den Gästen fehlt genauso wie die finanziellen Einnahmen. Die Umsatzeinbußen seien enorm. Minijobber und Freelancer konnte der Betreiber nicht weiterbeschäftigen, von den insgesamt acht Mitarbeitern gingen einige in Kurzarbeit. „Auf gewisse Weise sieht man dabei zu, wie das eigene Lebenswerk zerbröselt“, sagt Sandner. Anfragen von Bands für 2021 nimmt er schon gar nicht mehr an. „Weil es wirtschaftlich keinen Sinn macht, weil wir gar nicht wissen, wie und wann es überhaupt weitergeht.“
Crowdfunding-Aktion gestartet
Um über die Runden zu kommen, hat Sandner vor Kurzem seine zweite Crowdfunding-Aktion gestartet. Eine erste hatte ihm zwischenzeitlich etwas Luft verschafft. Zudem hat er die Überbrückungshilfen des Bundes beantragt. „Aber die versprochene Unterstützung kommt schleppend, teilweise oder gar nicht an“, sagt er. Von der Novemberhilfe, nach der Unternehmen 75 Prozent des durchschnittlichen Umsatzes im November 2019 bekommen sollen, „werde ich wohl erst im Januar etwas sehen“. Wie viel er davon überhaupt erhalten wird, weiß er nicht. Aber er sei Optimist, sagt er. Irgendwie werde es schon weitergehen. Nur wie genau, das ist völlig ungewiss.
Wie Sandner geht es derzeit vielen Kulturschaffenden und Menschen aus der Veranstaltungsbranche. Egal ob Hot Jazz Club GmbH, Sputnikhalle, Jovel, Dockland GmbH, Skaters Palace oder Gleis 22 – eigentlich alle Clubs in Münster verzeichneten 2020 einen enormen Umsatzrückgang. Manche kommen besser durch die Krise, andere kämpfen tagtäglich ums Überleben. Nicht besser geht es Soloselbstständigen, Gastronomen, Theater, Kinos oder Konzertveranstaltern. Viele ließen ihre Programme und Angebote in den vergangenen Monaten digital laufen – Geld verdient haben die meisten damit nicht. Stattdessen setzten viele wie Sandner auf Spenden- und Crowdfunding-Kampagnen.
Die Branche „befindet sich seit neun Monaten in einem Total-Lockdown. Eine so lange Zeit ohne Einnahmen und das Fehlen jeder Perspektive für die Zukunft würde wohl fast jeden wirtschaftlich in die Knie zwingen“, sagte Jens Michow, Präsident des Bundesverbands der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft (BDKV), Anfang Dezember gegenüber „tagesschau.de“. Mindestens 50 Prozent der Unternehmen, so schätzt Michow, seien wirtschaftlich nicht mehr überlebensfähig.
Befristete Überbrückungshilfen bis Juni 2021
Aus den Novemberhilfen sind mittlerweile Dezemberhilfen geworden. Zugleich werden laut Finanz- und Wirtschaftsministerium bisher bis Jahresende befristete Überbrückungshilfen bis Ende Juni 2021 verlängert. Bei dieser „Überbrückungshilfe III“ sollen die Höchstsummen deutlich erweitert werden. Den Angaben zufolge werden dafür im Bundeshaushalt 2021 insgesamt fast 40 Milliarden Euro berücksichtigt.
Dass der Staat in den vergangenen Wochen mit der November- beziehungsweise Dezemberhilfe und der Überbrückungshilfe III nun „passgenaue Hilfsprogramme“ und „beachtliche Maßnahmen“ auf den Weg gebracht hat, sieht Michow zwar als gutes Zeichen. Ausreichend seien diese allerdings nicht. So seien Unternehmen mit einem Umsatz von über 500 Millionen Euro nicht antragsberechtigt. Zudem würden im Ausland erwirtschaftete Umsätze nicht berücksichtigt und die Hilfen für Soloselbstständige auf lediglich 5.000 Euro begrenzt werden. Das sei nicht angemessen, kritisierte der BDKV-Präsident.
Die Dockland GmbH, die in Münster unter anderem das Heaven und das Fusion betreibt, hat die Auswirkungen der Corona-Pandemie ebenfalls hautnah zu spüren bekommen. Teilzeitkräfte konnten nicht weiterbeschäftigt werden. Von den knapp 50 verbliebenen Mitarbeitern landeten viele in Kurzarbeit. Und das Geschäftsjahr wird die Dockland GmbH voraussichtlich mit einem Minus im unteren sechsstelligen Bereich abschließen. „Am Ende“, sagt Geschäftsführer Thomas Pieper, „ist das trotzdem besser, als es unsere Prognose im März hätte erahnen lassen.“ Damals habe man mit einem Minus im „hohen sechsstelligen oder siebenstelligen Bereich“ kalkuliert.
Aufs Abstellgleis geschoben
Dass das Minus nun weniger hoch ausfällt, hat unter anderem mit den angesprochenen Hilfen zu tun. „Dafür sind wir dankbar“, sagt der Dockland-Geschäftsführer. „Was uns aber trotzdem Sorgen bereitet und uns umtreibt, ist die allgemeine Wahrnehmung unserer Branche.“ So fühlen sich viele Veranstalter und die in dieser Branche tätigen Dienstleister in den vergangenen Monaten von der Politik mehr oder weniger aufs Abstellgleis geschoben. „Anders als beispielsweise in der Tourismusbranche oder den Restaurants wurde uns vonseiten der Politik zu keiner Zeit ein Gefühl vermittelt, dass wir wichtig oder vielleicht sogar systemrelevant wären“, sagt Pieper. „Da wurde nach Lobbyismus und Wählerstimmen entschieden.“
Auch Hot-Jazz-Club-Geschäftsführer Christian Huys kritisiert, dass die Branche „über Monate hinten rüber gefallen“ sei, obwohl an dieser zahlreiche Arbeitsplätze, Existenzen und Zukunftsperspektiven hängen. „Es ist bezeichnend, dass man erst nach einem Dreivierteljahr merkt, dass wir doch nicht so unwichtig sind.“
Tatsächlich ist die Branche einer Studie des Research Institute for Exhibition and Live-Communication (RIFEL) zufolge bundesweit der sechstgrößte Wirtschaftszweig. Etwa 1,5 Millionen Mitarbeiter erwirtschafteten einen jährlichen Umsatz in Höhe von 130 Milliarden Euro. Was es für sie dennoch so schwer macht, ist ihre Vielfalt. Die Szene setzt sich aus einem riesigen Pool an Berufsgruppen zusammen. „Musiker, Clubbetreiber, Ton- und Lichttechniker, Caterer – auch deswegen fehlt uns in Politik und Gesellschaft das Standing und die Lobby“, meint Huys.
Bündnis #AlarmstufeRot schafft Aufmerksamkeit
Dass die Branche zuletzt mehr Aufmerksamkeit erhielt, ist vor allem dem Bündnis #AlarmstufeRot zu verdanken, einer Initiative, die Fachverbände im Veranstaltungswesen sowie Unternehmer und Soloselbstständige vereint. Das Bündnis wies in den vergangenen Monaten mehrfach auf die wirtschaftliche Misere der Branche hin und stellte Forderungen nach mehr staatliche Unterstützung. Um den Äußerungen Nachdruck zu verleihen, organisierte #AlarmstufeRot in Berlin zwei Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern und bekannten Musikern wie Herbert Grönemeyer, Campino oder Till Brönner.
„Die aktuellen Hilfsprogramme sind nicht mehr als ein Hoffnungsschimmer, der bei Weitem nicht die angefallenen Verluste der letzten Monate ausgleichen, geschweige denn die Branche vor dem Untergang retten kann“, erklärt das Bündnis auf seiner Homepage. Und Mitorganisator Christian Eichenberger sagt: „Wir konnten einerseits erreichen, dass das Novemberprogramm auch für einen großen Teil unserer Branche gelten wird. Andererseits bleiben aber zu viele weiterhin unberücksichtigt und in Insolvenzgefahr.“
Wie es nun weitergehen wird, bleibt abzuwarten. „Ob wir langfristig Schaden nehmen, müssen wir sehen“, sagt Dockland-Geschäftsführer Thomas Pieper. Aktuell sei er optimistisch gestimmt, auch diese Krise zu überstehen und vielleicht sogar gestärkt aus selbiger hervorzugehen. „Extrem wichtig ist für uns eine faire, vorurteilsfreie und ausschließlich auf Risikofaktoren, Faktenlagen und Vergleichbarkeiten basierende Bewertung für den Neustart im Frühjahr“, betont Pieper. „Wenn Olaf Scholz sagt, dass wir ab der zweiten Jahreshälfte wieder Events planen sollen muss man aber eher befürchten, dass es 2021 so weitergeht, wie es im Sommer 2020 endete. Und das wäre völlig inakzeptabel.“
Veranstaltungen in der zweiten Jahreshälfte?
Der Bundesfinanzminister hatte die Veranstaltungsbranche in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ vor Kurzem dazu ermutigt, wieder Veranstaltungen zu planen – allerdings erst für die zweite Jahreshälfte. Aus Piepers Sicht der falsche Weg: „Wir müssen genau dann wieder loslegen dürfen, wenn das die Zahlen zulassen. Wenn das im Mai möglich ist, dann darf es darüber keine Zweifel geben, auch im Mai zu starten.“
Ohnehin dürfte es fraglich sein, ob alle Beteiligten aus der Branche überhaupt bis zum Herbst durchhalten können. Bei vielen besteht vielmehr die Angst, dass die Clubszene – auch in Münster – nach der Pandemie anders aussehen könnte als bisher. „Da wir uns in städtischer Hand befinden, sind wir selbst aktuell zwar nicht von einem Aus bedroht“, sagt David Skroblin vom Gleis 22, wo normalweise um die 80 Konzerte im Jahr stattfinden. „Aber ich mache mir gerade um kleinere Clubs Sorgen und befürchte, dass einige aufgeben müssen.“ Christian Huys, der neben dem Hot Jazz Club auch die Rote Lola betreibt, glaubt, „dass einigen noch gar nicht bewusst ist, wie schlimm die Lage ist. Das Angebot in Münster wird sicherlich ausgedünnt werden.“
Besucher-Rückgänge innerhalb der Szene habe es in den vergangenen Jahren ohnehin bereits gegeben, sagt Thomas Pieper. Er hofft nun auf eine schrittweise Öffnung im späten Frühjahr. „Wenn die Inzidenzzahlen wie im Sommer 2020 liegen, parallel die Risikogruppen geimpft sind und Schnelltests durchgeführt werden können, dann halte ich das nicht nur für realistisch, sondern auch zwingend notwendig. In 2021 muss die Kulturszene unbedingt die gleiche Behandlung und Wertschätzung erfahren wie Tourismus, klassische Gastronomie, Einzelhandel, Gottesdienste oder Vergleichbares“, sagt er.
Dass einige Locations dagegen anfingen, virtuelle Clubs aufzubauen, bezeichnet Pieper als „nacktes Grauen. In unserer Szene geht es darum, Livemusik zu erleben. Es geht um ein physisches Miteinander und das gemeinsame Erleben von Kultur. Dies sind unabdingbare Komponenten für das Leben in den Innenstädten und den Metropolen.“ Und auch in Münster.