Kymba und Sascha (Foto: Oliver Brand)

Tiere und Wohnungslose: Freunde in schwierigen Zeiten

Hunde gelten als der beste Freund des Menschen. Und gerade Menschen in prekären Lebenssituationen haben zu den Vierbeinern meist ein inniges Verhältnis. Die Tiere geben ihnen einen festen Halt in schwierigen Zeiten.

Als Kymba am 3. Januar 2018 um 3:56 Uhr das Licht der Welt erblickt, hat Sascha vermutlich längst für sich entschieden, dass sie fortan unzertrennlich sein werden. Seit ihrer Geburt an diesem Mittwochmorgen „ist sie der Mittelpunkt meines Lebens“, sagt er. Seitdem sind sie zusammen. Er, 36 Jahre alt und obdachlos. Sie, gerade drei geworden, und ein Labrador-Mischling. „Kymba ohne Sascha oder Sascha ohne Kymba – das ist gar nicht mehr vorstellbar.“

Sascha beschreibt seine kleine Freundin, die manche liebevoll „Knautschkugel“ rufen, als „verspielt und verschmust“, gut erzogen und äußerst pflegeleicht, manchmal vielleicht ein bisschen zu forsch. „Aber das hat sie von ihrem Vater und ist eigentlich ein guter Charakterzug“, sagt er mit einem Lächeln und man weiß, was er meint, wenn man Kymba das erste Mal kennenlernt. Dann tollt sie um einen herum und begegnet fast jedem ohne große Scheu. Kymba, sagt Sascha, sei auf jeden Fall eine echte Charakterhündin. „Und sie gibt mir Halt in meinem Leben.“

Halt ist etwas, das der 36-Jährige gut gebrauchen kann. Sein Leben ist geprägt von Heim- und Gefängnisaufenthalten, vorübergehender Unterkunft bei Bekannten, Obdachlosigkeit, Gewalt und Misshandlungen. Seit er 18 ist, sagt Sascha, den es in seiner Kindheit aus Karlsruhe nach Münster verschlagen hat, lebe er mehr oder weniger auf der Straße. Sein halbes Leben also schon. Momentan ist er wieder auf Wohnungssuche. Mit Hund, so Sascha, sei dies allerdings noch schwieriger als ohnehin schon. Kymba deswegen abzugeben, daran verschwende er keinen Gedanken. Natürlich nicht. Ein Leben ohne Kymba ist eben nicht vorstellbar.

Fester Ankerpunkt

„Gerade für Menschen in prekären Lebenssituationen können Hunde ein fester Ankerpunkt sein in einem Leben, das voller Krisen ist“, sagt Andrea Beetz, Psychologin mit Schwerpunkt Mensch-Tier-Beziehung und Tiergestützte Interventionen an der IUBH Internationalen Hochschule. „Sie geben Stabilität und bringen eine gewisse Struktur in den Alltag, denn man trägt ja auch Verantwortung. Und sie können ein guter Freund in schwierigen Zeiten sein.“ Unabhängig davon, ob nun jemand auf der Straße lebt oder das Tier ein wohlbehütetes Zuhause vorfindet.

Chili (Foto: Oliver Brand)

Menschen, so Beetz, seien soziale Lebewesen. „Und neben anderen Menschen sind vor allem Hunde willkommene Sozialpartner, mit denen sich zum Teil auch fehlende Kontakte kompensieren lassen können.“ Denn gerade wer sich in Stresssituationen befindet, brauche soziale Unterstützung und profitiere dabei vom lieb gewonnen Vierbeiner. „In solchen Momenten braucht es eine emotionale Unterstützung, und Hunde haben diesbezüglich eine beruhigende Wirkung auf uns Menschen“, sagt die Psychologin.

Das Streicheln der Tiere verstärkt diesen positiven Effekt zusätzlich. Blutdruck und Herzfrequenz sinken, der Spiegel des Stresshormons Cortisol flacht ab. Und über den Körperkontakt, beispielsweise durch streicheln, wird das sogenannte „Kuschelhormon“ Oxytocin beim Menschen ausgeschüttet, das Stress reduziert und Bindung schafft. „Da reichen bereits ein paar Minuten, um eine solche Wirkung zu erzielen“, so Beetz.

Hunde erkennen Stimmungslage

Der beste Freund von jemandem zu sein, verlangt einem aber manchmal vieles ab. Gerade bei einem Team, wie es Sascha und Kymba sind und das auf der Straße lebt, herrscht nicht immer eitel Sonnenschein. „Wenn es mir mal nicht gut geht und ich in ein Tief falle, merkt sie das und zeigt viel Anteilnahme“, erzählt Sascha. Die Hündin helfe ihm dabei, aus solchen Situation herauszukommen. Einfach dadurch, dass sie bei ihm ist. Und durch ihr Verhalten. „Sie kommt zu mir, stupst mich an und passt auf mich auf“, sagt er. Doch eine Freundschaft beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit, und so kümmert auch sich Sascha liebevoll um Kymba, sorgt dafür, dass sie geimpft ist und ausreichend Bewegung hat. „Am Ende tun wir uns gegenseitig gut.“

Man geht davon aus, dass Mensch und Hund seit mehr als 30.000 Jahren zusammenleben, sagt Juliane Bräuer, Leiterin der Hundestudien am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Heute sei es wissenschaftlich erwiesen, „dass Hunde unsere Stimmung anhand unserer Stimme, Mimik und des Geruchs erkennen können“. Aber ob sie tatsächlich Empathie empfinden? Vorstellen könne sie sich das schon, so Bräuer, mit Gewissheit sagen lasse es sich nicht, da entsprechende Untersuchungen noch nicht abgeschlossen seien. „Was wir wissen, ist, dass Hunde für solche Dinge sensibel sind. Sie können Gesichtsausdrücke – seien es traurige oder fröhliche – unterscheiden. Trägt ein Mensch negative Emotionen mit sich, dann reagieren Hunde zum Beispiel mit unterwürfigem Verhalten, Stress oder Agilität.“

Kymba (Foto: Oliver Brand)

Studien in den vergangenen Jahren haben zudem ergeben, dass die Anwesenheit von Hunden Depressionen, Angstzustände oder Aggression reduzieren und zudem Vertrauen und Empathie steigern kann. Auch fördert sie die Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen. „Wer zum Beispiel draußen mit einem Hund unterwegs ist, führt mehr Gespräche“, sagt Andrea Beetz. „Und wenn zum Beispiel ein Hund mit in einem Raum ist, wird dort mehr geredet und gelächelt.“

Mehr Neuregistrierungen in der Corona-Krise

Der VDH spricht von etwa 20 Prozent mehr Hunden, die 2020 im Vergleich zu Nicht-Corona-Jahren gekauft worden sind. „Das ist ein dramatisches Wachstum, ein großer Schritt innerhalb kürzester Zeit“, so Kopernik. Die Tierschutzorganisation „Tasso“, die Europas größtes kostenloses Haustierregister betreibt, meldete knapp acht Prozent mehr Neuregistrierungen von Hunden im Vergleich zum Vorjahr. Im Juni und November lag das Plus sogar bei 25 und 20 Prozent.

„Tiere können während dieser Pandemie eine große Unterstützung sein, weil sie ein Fixpunkt im Leben sind“, sagt Andrea Beetz. „Sie geben Menschen, die beispielsweise nicht arbeiten können, trotzdem einen Grund, früh aufzustehen und den Tagesablauf zu strukturieren. Das gewohnte Leben wird auf diesem Wege in Teilen beibehalten.“ Was aber passiert, wenn das Homeoffice irgendwann vorbei ist und der normale Arbeitstag die Menschen wieder einholt? „Ich befürchte, dass dann vermehrt Tiere wieder abgegeben werden“, so Beetz. Natürlich habe sie die Hoffnung, dass sich möglichst viele Leute die Anschaffung gut überlegt haben. „Aber es wird eben auch viele geben, die sich spontan für ein Tier entschieden haben.“

Im Tierheim Münster teilt man diese Einschätzung. Aktuell sind hier etwa 25 Hunde und 30 Katzen untergebracht. So wenig wie seit Jahren nicht. „Normalerweise liegt der Bestand bei 40 Hunden und rund 100 Katzen“, sagt Doris Hoffe, seit 1990 Vorsitzende des Tierschutzvereins Münster. Gleichwohl dürfte sich dieser Zustand wohl bald umkehren, glaubt Hoffe. „Nicht nur, weil die Menschen wieder arbeiten gehen und der Alltag einkehrt. Sondern auch weil viele die Corona-Nachwirkungen zu spüren bekommen werden und den Gürtel enger schnallen müssen.“

Längere Verweildauer im Tierheim

Und noch etwas sieht Hoffe problematisch: „Viele Leute, die sich einen Hund angeschafft haben, haben sich zuvor nur wenige Informationen eingeholt.“ Das führe dazu, dass die Tiere nicht richtig sozialisiert werden. „Am Ende muss das Tierheim dann das ausbaden, was die Menschen kaputt gemacht haben.“

Die Verweildauer im Tierheim habe laut Hoffe im Laufe der vergangenen Jahre ohnehin schon zugenommen. „Wir hatten bisweilen Hunde bei uns, die zwei Jahre hierbleiben mussten.“ Wer ein Tier aus dem Tierheim aufnehmen möchte, muss sich zuvor einer Prüfung unterziehen. Es werden Termine vereinbart, Gespräche geführt und Einschätzungen getroffen, ob Interessent und Tier auch zusammenpassen. Hoffe ist sich daher sicher, dass die Tiere, „die wir 2020 vermittelt haben, in der Regel nicht zu uns zurückgebracht werden“. Weit mehr Anlass zur Sorge gebe da der Handel übers Internet. Denn in der Corona-Krise boomt der illegale Online-Handel besonders mit Welpen und Katzen.

Käse und Wanda (Foto: Raffael Köchling)

„Allein zwischen Januar und Oktober 2020 wurden 75 Fälle von illegalem Heimtierhandel bekannt, 818 Tiere waren betroffen“, sagt Lisa Hoth, Fachreferentin für Heimtiere beim Deutschen Tierschutzbund. Damit liege die Zahl der Fälle und Tiere bereits über der Gesamtzahl des Vorjahres. Damals gab es insgesamt 66 Fälle von illegalem Handel mit mindestens 731 betroffenen Tieren. Die Tierschutzorganisation „Vier Pfoten“ verzeichnete zudem bereits in diesem Januar 19 illegale Welpentransporte und unzulässige Aufzuchten. Insgesamt wurden 91 viel zu junge und illegal eingeführte oder illegal gehaltene Tiere bei Kontrollen in Deutschland entdeckt und beschlagnahmt.

Forderung nach besserer Rückverfolgung

Vor diesem Hintergrund hatte die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, Ende Januar Tierschutz- und Tierärzteverbände sowie die Heimtierbranche zu einem Runden Tisch geladen. In einer Pressemitteilung ließ Klöckner anschließend mitteilen, dass Online-Portale einheitliche Branchenstandards bräuchten. „Dazu gehört auch eine bessere Rückverfolgbarkeit. Die Daten des Anbieters könnten etwa beim Portal hinterlegt werden, um im Fall behördlicher Ermittlungen abrufbar zu sein“, so die Ministerin. Ob es dazu kommt?

„Eine strenge Regulierung des Onlinehandels mit Tieren ist überfällig“, betonte Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, nach dem Treffen. „Frau Klöckner darf dieses Thema nicht nur für den Wahlkampf nutzen. Dem Runden Tisch muss sie nun auch Taten folgen lassen.“ Daniela Schneider, Kampagnenverantwortliche für Heimtiere bei „Vier Pfoten“, sagte: „Sie (Julia Klöckner, Anm. d. Red.) muss die letzten Monate ihrer Amtszeit nutzen und eine Verifizierungspflicht für alle Tierverkäuferinnen und -verkäufer sowie eine Rückverfolgbarkeit der Tiere auf den Weg bringen. Nur so kann die Welpenmafia vom Markt ausgeschlossen und das enorme Tierleid beendet werden.“

Wer sich mit Menschen wie Sascha, Punks, Wohnungs- oder Obdachlosen in Münster und der Herkunft ihrer Hunde auseinandersetzt, weiß schnell um deren Verantwortungsbewusstsein für ihre Tiere. Egal ob Kymba, Chili, Wanda, Käse oder Timo – um sie wird sich gewissenhaft gekümmert, sie haben es gut bei ihren Besitzer*innen und sie alle sind auf legalem Wege hierhergekommen. Sei es über Auffangstationen im Ausland, dem Tierheim oder dem Wurf eines bekannten Hundes.

Kein Unterschied bei Dankbarkeit

Von dem Gedanken, dass ein Hund womöglich dankbarer ist, wenn man ihn beispielsweise aus einem armen Land „befreit“ hat, sollte man sich derweil allerdings verabschieden. Das sei ein rein menschliches Konstrukt, sagt Juliane Bräuer. „Letztlich sind alle Hunde froh, mit einem Menschen zusammen zu sein. Das trifft auf Straßenhunde genauso zu wie auf Tiere vom Züchter.“

Andrea Beetz ist zudem überzeugt davon, dass die Hunde mit den Menschen auf der Straße vielleicht sogar ein besseres oder zumindest glücklicheres Leben führen als in einer Zwei-Verdiener-Kinder-Ganztags-Familie, wo der Hund tagsüber alleine ist. „Einfach, weil sie mit ihrer Bezugsperson viel mehr und viel enger zusammen sein können und sich so gegenseitig guttun.“ Sascha und Kymba sind ein gutes Beispiel dafür. Er kann sich ein Leben ohne Kymba sowieso „gar nicht mehr vorstellen“.

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