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Münster: Mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung

Das Jugendamt in Münster hat im vergangenen Jahr bei deutlich mehr Kindern und Jugendlichen eine Gefährdungslage festgestellt. Die Stadt will darauf reagieren.

Das Jugendamt in Münster hat im vergangenen Jahr bei deutlich mehr Kindern und Jugendlichen eine Gefährdungslage festgestellt. Das bestätigte die Stadt auf Anfrage. Demnach gingen im Corona-Jahr 2020 insgesamt 465 Hinweise auf Kindeswohlgefährdung beim Kommunalen Sozialdienst (KSD) in Münster ein. Das sind rund 20 Prozent mehr als 2019 (388). Fast jeden zweiten Fall (45 Prozent) stufte der KSD dabei als akut ein. In rund 33 Prozent (154) war das Ergebnis, „dass es zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber einen Hilfebedarf in der betroffenen Familie gibt“, so die Verwaltung. 142 Kinder und Jugendliche wurden in Obhut genommen.

Die häufigsten Gefährdungsmerkmale waren nach Angaben der Stadt wie schon in den Vorjahren „Vernachlässigung, Kinder psychisch kranker oder suchtkranker Eltern sowie seelische und emotionale Misshandlung“. Und Besserung scheint vorerst nicht in Sicht: Die Durchschnittszahlen der Gefährdungseinschätzungen in der ersten Jahreshälfte 2021 liegen den Angaben zufolge auf Vorjahresniveau.

Aus Sicht von Münsters Jugendderzenent Thomas Paal kommt der Anstieg nicht überraschend: „Vielmehr zeigen auch die Verläufe in anderen Kommunen, die einen ähnlichen Missbrauchs- beziehungsweise Kinderschutzfall wie Münster erlebt haben, dass im Nachgang die Sensibilität für den Kinderschutz erheblich gestiegen ist und es dadurch zu einem höheren Meldeverhalten in der Bevölkerung kam.“

Missbrauchskomplex sorgt für Entsetzen

Der Missbrauchskomplex von Münster hat seit dem Bekanntwerden im Juni des vergangenen Jahres bundesweit für Entsetzen gesorgt. Dem mutmaßlichen Haupttäter Adrian V. wird mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen. Insgesamt haben die Ermittler mehr als 50 Tatverdächtige identifiziert, von denen etwa 30 in Haft sitzen. Münster ist neben Lügde und Bergisch Gladbach eine von drei großen Missbrauchsserien, denen die Ermittler in NRW seit 2019 auf die Spur kamen.

Neben einer höheren Sensibilität durch den Missbrauchsfall in Münster gibt es dem Jugendamt zufolge noch einen weiteren Faktor, der entscheidend zu der Entwicklung beigetragen hat: die Auswirkungen der Corona Pandemie, die „zu einer Zuspitzung von Problemlagen in Familien geführt“ hätten. Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbunds, warnte aus diesem Grund zuletzt wiederholt vor eine Zunahme der Gewalt in Familien. „Durch die Corona-Krise und die damit verbunden Schul- und Kitaschließungen und den Wegfall von sonstigen Freizeitangeboten werden betroffene Kinder noch leichter übersehen.“ Der Kinderschutzbund hatte schon früh darauf hingewiesen, dass „die Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien nur eine untergeordnete Rolle spielen“, während über die Eröffnung von Möbelhäusern bereits engagiert diskutiert worden sei.

Paal ist derweil skeptisch, dass man dem Trend steigender Zahlen gezielt entgegenwirken kann. Bewusst steuern lasse sich eine Umkehr nicht, sagt der Jugendderzenent. Allerdings führe die höhere Sensibilität „gegebenenfalls zu einem besseren Kinderschutz, da unter Umständen Kinder in den Blick geraten, deren Leiden ohne die gesteigerte Sensibilität nicht erkannt worden wäre“. Gleichzeitig sieht ein im Februar im Ausschuss für Kinder, Jugendliche und Familie verabschiedetes Maßnahmenpaket zum Schutz von Kindern unter anderem eine Aufstockung des Personals sowie umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen vor.

Personal soll aufgestockt werden

„Um einen guten und verlässlichen Kinderschutz sowie nachhaltige Hilfen zur Erziehung zu erbringen, sind gut ausgebildete Fachkräfte eine grundlegende Voraussetzung“, sagt Paal. 3,5 zusätzliche Stellen sind vorgesehen. Besetzt sind diese bislang allerdings noch nicht. Ende Juni tagte zudem erstmals der Runde Tisch „Gegen sexualisierte Gewalt in Münster“ mit dem Ziel, die Kooperation und Kommunikation verschiedener Organisationen im Kinderschutz zu verbessern und verbindliche und überprüfbare Absprachen zur zukünftigen Zusammenarbeit zu treffen.

Bundesweit haben die Jugendämter im Jahr 2020 rund 45.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut genommen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Demnach erfolgten zwei Drittel (67 Prozent) dieser Inobhutnahmen wegen einer dringenden Kindeswohlgefährdung, 17 Prozent aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland und weitere 17 Prozent auf Bitte der betroffenen Minderjährigen. Ein Drittel (33 Prozent) aller 2020 in Obhut genommenen Jungen und Mädchen war jünger als zwölf Jahre (in Münster: 30 Prozent), jedes zehnte Kind (11 Prozent) sogar jünger als drei Jahre (Münster: 7 Prozent).

Im Vergleich zu 2019 sind die Inobhutnahmen um acht Prozent oder rund 4.100 Fälle zurückgegangen. Noch deutlicher war der Rückgang in Fällen von dringender Kindeswohlgefährdung (minus 2.100 Fälle).

Von Oliver Brand

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