Hannes Wittmer

Hannes Wittmer: Geschenke gegen den Kapitalismus

Der Musiker Hannes Wittmer bietet seine Musik auf seiner Homepage zum kostenlosen Download an und spielt Konzerte für einen freiwilligen Beitrag. Warum er das macht, hat er uns im Interview verraten.

Eigentlich hätte Hannes Wittmer längst in Kanada sein wollen. Die zurückliegenden, aufreibenden Jahre hinter sich lassen und einfach mal den Kopf frei kriegen. Doch dann kam Corona, die Überfahrt fiel aus und Wittmer, Jahrgang 86, blieb. Weil die eigene Wohnung bereits gekündigt war, lebt er nun auf einem Campingplatz bei Würzburg, von wo aus er gerade „Das Ende der Geschichte“ veröffentlicht hat. Wie schon den Vorgänger „Das große Spektakel“ von 2018 bietet der Musiker auch die neuen Songs zum kostenlosen Download auf seiner Homepage an. Wer will, kann Wittmer eine freiwillige Spende zukommen lassen. Warum er seine Musik verschenkt und kostenlos Konzerte spielt, hat er uns erzählt.

draußen!: Hannes, vor zwei Jahren hast du dich vom klassischen Musikbusiness abgewandt, jetzt die Auswirkungen der Corona-Pandemie – wie viel Veränderung verträgt der Mensch?

Hannes Wittmer: Ich kann da nicht für andere sprechen, aber für mich selbst war das Lösen vom Musikbusiness und damit verbunden meiner etwas anderen Rolle als Musiker schon eine extreme Veränderung, die auch größer war, als ich es mir vorher ausgemalt hätte. Andererseits hat mich dieser Schritt in gewisser Weise ganz gut auf die Corona-Sache vorbereitet. Einfach weil ich es gewohnt bin, dass Sachen auch mal anders laufen können.

Bietet gerade eine Zeit, wie wir sie derzeit durchleben, in solchen Momenten nicht auch die Möglichkeit, mal etwas runterzukommen und sein eigenes Handeln zu reflektieren?

In meinem Fall war das tatsächlich so. Als es den Lockdown gab und erstmal dieser ganze Leistungsdruck abgefallen ist, habe ich mich wirklich frei gefühlt. Ich bin dann durch Würzburg gelaufen – es waren ja kaum Autos unterwegs – und mir ist erstmal bewusst geworden, wie viel frischer die Luft geworden ist. Das war schon schön, um mal runterzukommen und den Kopf frei zu bekommen. Aber ich weiß auch, dass das mit Privilegien zu tun hat, zumal ich keinen Job im klassischen Sinn habe. Bei vielen anderen war es sicherlich anders.

Eigentlich wolltest du dich Ende März mit einem Frachtschiff auf den Weg nach Kanada machen und die vergangenen Monate ein Stück weit hinter dir lassen. Wie wichtig ist dir das, Abstand zu gewinnen?

Zunächst einmal fand ich die Vorstellung schön, ein Gefühl dafür zu entwickeln zu können, wie groß so eine Entfernung wirklich ist und die Erfahrung zu machen, wie es ist, wenn man für zwei Wochen 360 Grad um sich herum nur Wasser hat. Ansonsten war die Idee aber schon, alles ein wenig hinter sich zu lassen und auf neue Gedanken zu kommen, weil ich mich zuletzt einfach sehr viel um die gesellschaftlichen Zustände und mich selbst gedreht habe – sei es hinsichtlich meiner Rolle als Musiker oder des Umstands, wie ich das alles angehe. Das alles war sehr kräftezehrend.

„Menschen, die nichts haben, haben Probleme, weil sie eben nichts haben.“

Hannes Wittmer

Vor knapp drei Jahren hast du dich dazu entschieden, deine Musik kostenlos anzubieten und Konzerte nur noch nach dem „Pay-what-you-want-Prinzip“ zu spielen. Was waren die Gründe dafür?

Ich habe mich damals viel mit kapitalistischen Mechanismen und den daraus folgenden ökologischen und sozialen Krisen unserer Zeit auseinandergesetzt. Die große Geschichte, um die sich alles dreht, ist nunmal der Kapitalismus. Am Ende muss aus Geld immer mehr Geld gemacht werden. Darum geht es, und da hängen so wahnsinnig viele Rattenschwänze dran, die letztlich zu Druck führen oder zu Angst. Es ist doch meistens so: Menschen, die nichts haben, haben Probleme, weil sie eben nichts haben. Menschen, die etwas haben, haben Angst, ihr Haben zu verlieren, weil sie in einem Wettbewerb zu anderen stehen. Es geht um Leistungsdruck, Konkurrenzdenken und vor allem undifferenziertes Wachstum. Ich habe mir dabei die Frage gestellt, was mein Anteil an diesen Mechanismen ist. Und das hat dazu geführt, dass ich mich so weit wie möglich von Musik als Produkt lösen wollte.

War genau das ein Ziel, auf das du immer schon zugegangen bist?

Viele Dinge, die mich jetzt umtreiben, haben mich tatsächlich schon als Teenager beschäftigt. Nur habe ich sie damals noch nicht bewusst benennen können. Heute weiß ich, dass es großteils an unserer Art zu wirtschaften liegt.

Deine neue Veröffentlichung „Das Ende der Geschichte“ gibt es nur auf deiner Homepage – man kann es umsonst herunterladen oder dafür zahlen, was man möchte. Denkst du, dass dein Ansatz die Menschen in gewisser Weise auch sensibilisiert, Dinge zu erkennen, die wichtig sind?

Ich habe ja nur einen winzigen Wirkradius, aber natürlich hoffe ich, dass Leute darüber sprechen und vielleicht auch darüber nachdenken, wie ihre eigene Rolle aussieht. Für mich selbst ist es immer noch ein Herantasten. Ich habe keinen Masterplan, wie ich mich am besten verhalten kann. Das alles ist ein Prozess mit ganz vielen Testballons, die ich immer wieder aufsteigen lasse.

Hannes Wittmer

Würdest du sagen, die Veränderungen, die du seitdem als Musiker durchlebt hast, waren durchweg positiv?

Allein weil ich in dieser Zeit wahnsinnig viel über mich, aber auch das Business und das Verhältnis zum Publikum gelernt habe, möchte ich nichts davon missen. Gerade der Austausch zwischen dem Publikum und mir als Musiker ist sehr viel enger und nahbarer geworden. Wenn ich früher eine CD verkauft habe, gab es am Ende des Jahres eine Abrechnung vom Vertrieb, auf dem eine bestimmte Summe stand – und das war dann die Bewertung, wie gut du Musik gemacht hast.

Und heute?

Ich erhalte viele kleine Nachrichten. In der Corona-Zeit haben mir Menschen völlig unaufgefordert Geldsummen über den Unterstützerbutton auf meiner Homepage überwiesen. Dabei stand dann zum Beispiel: „Pass auf dich auf!“ Das ist schon toll, dass es Leute gibt, die darüber nachdenken, wie es wohl dem Hannes geht und mir helfen. Ich habe auch schon Gitarreneffekte zugeschickt bekommen oder Honig-Gläser in Verbindung mit einer Honig-Flatrate. (lacht) Das sind Dinge, die viel weniger abstrakt sind, viel weniger entfremdet.

Gab es auch negative Effekte?

Wenn man sich aus Strukturen heraus bewegt, macht einen das ein bisschen einsamer. Und es ist sehr viel anstrengender, eine Tour zu planen oder Pressearbeit zu machen. Und natürlich erreiche ich auch weniger Menschen, da ich auf gewissen Plattformen einfach nicht mehr stattfinde.

„Es ist so, dass ich – bedingt durch die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation – das Gefühl habe, ständig auf der Suche zu sein.“

Hannes Wittmer

Muss man manchmal solche unkonventionelle Wege gehen, wie du sie in der Vergangenheit eingeschlagen hast, um nach vorne zu kommen und sich weiterzuentwickeln?

Davon bin ich zumindest überzeugt. Andererseits ist aber auch so, dass ich – bedingt durch die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation – das Gefühl habe, ständig auf der Suche zu sein. Ich möchte eben nicht der Künstler sein, der sagt: „Ich verkaufe euch jetzt Songs, in denen Ihr euch wiederfindet.“ Ich denke, dass es weit mehr Dinge gibt, über die gesprochen werden muss. Ich habe dabei einfach dieses Bedürfnis, mich anders zu verhalten, was auch ein Grund dafür ist, dass ich gerade so viele Sachen ausprobiere wie meinen Podcast oder eben die Musikbusiness-Geschichte.

Der Titel deines neuen Albums, „Das Ende der Geschichte“, geht auf den US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama zurück. Er prophezeite Anfang der 90er-Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten den Siegeszug der liberalen Demokratie samt freier Marktwirtschaft gegenüber totalitären Systemen. Heute könnte man sagen: Es ist anders gekommen. Klammern sich die Menschen aus deiner Sicht diesbezüglich zu viel an die Vergangenheit, weil die Welt eben immer komplexer wird?

Ich glaube schon, und auf der einen Seite hat es eine gewisse Tragik, weil Veränderungen nunmal zwingend notwendig sind. Auf der anderen Seite ist es aber auch verständlich, weil wir als Menschen sehr sicherheitsgeprägt sind und Paradigma-Wechsel oft als problematisch angesehen werden. Dass führt in letzter Konsequenz dazu, dass es nun überall Retro-Trends gibt und dass man eine Kulturlandschaft hat, in der ein Remake und ein Sequel nach dem anderen durch die Mangel gedreht wird und somit ein ständiger selbst referenzieller Wiederholungsbetrieb läuft.

Denkst du dabei eher an das große Ganze, oder sollte sich zunächst einmal jeder für sich selbst mit möglichen Veränderungen auseinandersetzen

Beides. Aus meiner Sicht braucht es große gesellschaftliche Veränderungen, aber das funktioniert eben nur über die Summe der einzelnen Teile. Es müssen entsprechende Parteien gewählt werden, es müssen entsprechende Entscheidungen getroffen werden, es muss eine entsprechende Bereitschaft für die großen Veränderungen vorhanden sein. Am Ende muss das alles von beiden Seiten ausgehen. Denn ich denke nicht, dass das etwas ist, das man von oben herab autoritär instruieren kann. Und bei den vorhandenen Machtverhältnissen kann ich mir auch nur schwer vorstellen, dass Menschen es von unten heraus schaffen könnten, Krisen wie zum Beispiel den Klimakollaps abzuwenden.

„Die Corona-Krise hat ganz viele Probleme, die bereits vorhanden waren, extrem verschärft.“

Hannes Wittmer

Gehen nicht gerade solche Themen wie eben der Klimawandel, aber auch die Flüchtlingskrise oder der aufkommende Rechtsextremismus bedingt durch die enorme Berichterstattung über die Corona-Pandemie in der öffentlichen Wahrnehmung gerade zu sehr verloren?

Man kann das ganz gut an den Umfragewerten der Grünen beobachten. Da wurde vor Kurzem noch darüber gesprochen, dass Robert Habeck womöglich Kanzler werden könnte. Und jetzt haben wir eine Union, die bei knapp 40 Prozent steht. Da haben sich sicherlich ein paar Inhalte verschoben. Die Corona-Krise selbst ist in Teilen ja auch eine neue Herausforderung, aber sie zeichnet eben auch aus, dass ganz viele Probleme, die bereits vorhanden waren, extrem verschärft worden sind.

An was denkst du dabei?

Den strukturellen Rassismus zum Beispiel. Wenn man sich anschaut, wie hoch der Anteil der Corona-bedingten Toten innerhalb der schwarzen Bevölkerung in den USA ist. Oder das in manchen Haushalten, in denen die Lage eh schon prekär ist, die häusliche Gewalt zunimmt. Ein anderes Thema ist die Monopolisierung. Sehr viele kleinere Unternehmen sind infolge der Krise in enorme Schwierigkeiten geraten, während Firmen wie Spotify, Netflix oder Amazon Milliardengewinne einstreichen. Deren Marktanteile, die eh schon riesig sind, wachsen immer weiter.

Du hast auf deinem Blog geschrieben, dass dir der emotionale Zugang zur Musik zwischenzeitlich verloren gegangen ist und du keine Lieder mehr schreiben konntest. Wie war das?

Die Situation damals war sicherlich nicht einfach. Es ist, als versuche man eine Lawine unter einem Mikroskop zu betrachten. Das ist wahnsinnig kompliziert und dynamisch und es droht einen gleichzeitig zu überrollen. Wenn man sich in diese Sache dann so reinbeißt, wird man irgendwann total verkopft. Der Mensch ist halt kein Computer, der alles mal eben schnell durchrechnet. Man muss seine emotionalen Ventile finden und das ist mir ein wenig abhanden gekommen. Geholfen hat mir dann meine letzte Tour. Menschen sind zu mir auf die Bühne gekommen und ich habe viel über diese Dinge gesprochen, gleichzeitig aber auch auch Ansätze von anderen dazu gehört. Da ist ein Gemeinschaftsgefühl entstanden, das mir sehr geholfen hat.

Du greifst das Thema auch auf deinem neuen Album in dem Song „Die Beschissenheit der Welt“ auf, den du deiner Lebensgefährtin gewidmet hast. Unter anderem singst du: „Ich brauch nicht lange überlegen, was mich auf den Beinen hält“. Merkt man gerade in solchen Momenten noch mehr, wie wichtig es ist, solche Menschen zu haben?

Hannes: Auf jeden Fall. Wenn man Dinge anders macht und infrage stellt, führt das oft dazu, dass man sehr alleine dasteht. Da ist es umso wichtiger, dass man nicht den Kontakt verliert und Leute hat, die dir den Rücken stärken und sich auf deine Lebensrealität einlassen.

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