Frank Goosen (Foto: Ira Schwindt)

Frank Goosen: Vieles von früher wird heute verklärt

Der Ruhrgebiets-Schriftsteller Frank Goosen begibt sich in seinem Roman „Sweet Dreams“ auf eine Zeitreise zurück in die Achtziger. Zurück zu Schulterpolstern, Synthiepop und Zauberwürfeln. Wir haben mit ihm über die Unterschiede zwischen damals und heute gesprochen.

Ruhrgebiets-Autor Frank Goosen schreibt in seinem neuen Roman „Sweet Dreams“ über seine Jugend in den achtziger Jahren in Bochum. Er schreibt über den ersten Kuss, das erste Bier, Klammerblues, Mixtapes, Friedensdemonstrationen und über Freunde. Als das Jahrzehnt beginnt, ist er 13 Jahre alt, als es endet 24. Die Zeit dazwischen habe ihn „entscheidend geprägt“, wie er im Interview erzählt. Ein Gespräch über ein Jahrzehnt voller Popkultur, Zeitreisen, die Corona-Pandemie und den Wandel im Ruhrgebiet.

draußen!: Herr Goosen, in „Sweet Dreams“ erzählen Sie Geschichten aus Ihrer Jugend in den 80ern. Warum ausgerechnet jetzt ein Buch über dieses so oft als geschmacklos verschriene Jahrzehnt?

Frank Goosen: Angefangen hat es eigentlich damit, dass ich vor anderthalb Jahren ein neues Programm für das Zeltfestival in Bochum geschrieben habe, bei dem auch die Achtziger Teil sein sollten. Beim Schreiben habe ich dann so viel Spaß gehabt, dass ich innerhalb von zwei Wochen statt der geplanten zwei gleich sechs neue Texte verfasst habe. Und als dann die Pandemie begann, entstand die Idee, daraus ein ganzes Buch zu machen.

Sie hatten viel Zeit zum Schreiben…

Ehrlich gesagt, habe ich mich während des ersten Lockdowns vor allem damit auseinandergesetzt, was das alles für mich bedeutet und was da alles wegbricht. Zudem hatte ich zu dieser Zeit eigentlich einen anderen Roman angefangen, auf den ich mich aber nicht konzentrieren konnte. Und da ich sowieso noch ein paar Geschichten aus den Achtzigern herumliegen hatte, die ich zum Teil überarbeit oder neu geschrieben habe, hat es einfach gepasst. Es war ein gutes Gefühl, sich aus der Gegenwart mit dem Virus herauszubeamen und zurück in eine Zeit zu reisen, die mich und meine ganze Generation geprägt hat.

Sie schreiben über die Jahre zwischen Ihrem 13. und 24. Lebensjahr. Wie wichtig war diese Zeit für Sie?

Ganz entscheidend. Gerade in diesem Alter gibt es ganz viele einschneidende Erlebnisse. Deshalb erinnert man sich ja auch immer wieder daran. Für andere sind das vielleicht die neunziger oder die nuller Jahre. Irgendwann kehrt man automatisch immer wieder dorthin zurück. Und es ist ja auch nicht mein erstes Buch, das in dieser Zeit spielt.

Ein paar der Geschichten beruhen auf Tagebucheinträgen. Sind Ihnen die zufällig vor die Füße gefallen?

Ich habe tatsächlich Tagebucheinträge hinzugezogen. Aber sicherlich nicht in so großer Menge, wie manche vielleicht glauben mögen. Viele haben ja die Vorstellung, dass man solche Tagebücher bei einem solchen Projekt intensiv konsultiert. Dabei ging es die meiste Zeit nur um Mädchen.

„Alles, was ich schreibe, ist wahr. Aber nicht alles ist so passiert.“

Frank Goosen, Schriftsteller

Wie präsent ist Ihnen die Zeit von damals denn heute noch?

Schon sehr. Aber am Ende ist „Sweet Dreams“ eben auch ein belletristisches Buch. Alles, was ich schreibe, ist wahr. Aber nicht alles ist so passiert. Man darf nicht den Fehler machen zu glauben, das Buch wären meine Memoiren. Es sind größtenteils fiktionale Geschichten, die auf eigenen Erfahrungen beruhen. Das ist ja auch das Schöne daran: Zu den Dingen, an die man sich nicht mehr so genau erinnert, kann man etwas dazu erfinden – auf der Basis dessen, was man über diese Zeit weiß.

Sie haben die Pandemie angesprochen. Wie hätten Sie diese in den Achtzigern überstanden?

Wir müssen uns eigentlich jeden Tag vor Augen führen, wie die Corona-Krise ohne das Internet aussehen würde. Man kann sicherlich viel darüber schimpfen, aber wenn ich mir vorstelle, das alles würde es wie in den Achtzigern nicht geben – wir hätten uns wahrscheinlich alle aufgehängt. Es gab drei Fernsehsender und kaum Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren. Heute halten wir über Videokonferenzen Kontakt. Natürlich hätte man auch damals mal angerufen. Aber wenn ich daran denke, was alleine ein Ferngespräch damals gekostet hat…

Sie hätten den Zauberwürfel Rubik fertigmachen können…

Den hätte ich nach drei Minuten an die Wand geschmissen. (lacht)

Das schwierige Verhältnis zu dem Würfel wird im Buch angerissen. Ebenso Mixtapes. Sind diese nicht eigentlich die besseren Tagebücher, weil sie mehr Gefühle transportieren?

Die Verbindung von Musik und Emotion ist sehr eng. Und Mixtapes sind aus meiner Sicht eine emotionale Erinnerungsstütze, um sich noch mal zu vergegenwärtigen, welche Emotionen man damals vermitteln wollte. Die Mixtapes, um die es im Buch geht, sind allerdings erfunden. Mir war einfach die Idee gekommen, ein Mixtape zu machen, bei dem die Titel in ihrer Gesamtheit ein Gedicht oder eine Aufforderung ergeben.

Frank Goosen (Foto: Ira Schwindt)

Musik spielt auch im Kapitel „Warten auf Springsteen“ eine große Rolle. Die Geschichte greift den Tod von Rockpalast-Gründer Peter Rüchel auf. Sie schreiben, dass es damals eine Zeit war, in der Musik noch richtig wichtig war und nicht grenzenlos verfügbar. Was war anders?

Musik wird einen nie wieder so berühren wie in der Zeit als Teenager in der Pubertät. Die Emotionen in diesem Abschnitt des Lebens sind einfach so viel krasser – erste Liebe, zweite Liebe. Enttäuschungen, die man durchlebt hat… Diese Erfahrungen gepaart mit Musik sind eine Kombination, die in späteren Jahren aus meiner Sicht so nicht mehr zu erreichen ist.

Und was ist mit der grenzenlosen Verfügbarkeit?

Früher war es einfach unfassbar schwierig, an bestimmte Musik heranzukommen, und das hat sie natürlich wertvoller gemacht. Ich kann mich daran erinnern, wie sehr man ausgerastet ist, wenn jemand auf einer Party die Single oder das Album mit besoffenem Kopf ins Aquarium geschmissen hat. Heute wäre das ja fast schon egal, weil alles sofort über Streamingdienste abrufbar ist. Aber ich finde diese Art des Musikhörens auch sehr hilfreich und nutze die Vorteile selbst. Nur habe ich nicht den Eindruck, dass Musik beispielsweise für meine Kinder diese existenzielle Bedeutung hat wie für mich. Vielleicht haben sie mit 17 und 19 aber auch einfach keine Lust, mir das zu erzählen. (lacht)

Sie waren damals in den Achtzigern so alt wie Ihre Kinder heute – woran erinnern Sie sich besonders gerne?

Da kann ich nichts Konkretes herausgreifen. Vielleicht vermisse ich ein wenig dieses Gefühl der Offenheit, die man damals selbst gar nicht so wahrgenommen hat. Und diese unbändige Energie, die ich zum Teil hatte, ist heute nicht mehr da. Auf der anderen Seite war man aber auch emotional wahnsinnig angreifbar.

„Viele in meiner Generation haben damals im Ruhrgebiet unheimlich viel Aufbruch verspürt. Und boten sich Möglichkeiten, die viele Eltern nicht hatten.“

Frank Goosen, Schriftsteller

Seit den 80er-Jahren hat sich viel im Ruhrgebiet verändert. Sie sind Bochumer und haben praktisch Ihr ganzes Leben dort verbracht. Wie haben Sie den Wandel erlebt?

Wir haben das gar nicht so sehr wahrgenommen. Für uns war es mehr oder weniger selbstverständlich, dass die Zeche Prinz Regent in Bochum plötzlich ein Veranstaltungszentrum war und wir dort Konzerte besuchen konnten. Viele in meiner Generation haben damals im Ruhrgebiet unheimlich viel Aufbruch verspürt. Alles ging vorwärts. Uns boten sich Möglichkeiten, die viele Eltern nicht hatten. Mein Vater konnte nie aufs Gymnasium gehen. Mir stand das alles offen. Und das habe ich dankend angenommen.

Man hört ja immer wieder von diesem typischen Ruhrgebietscharme von damals. War früher tatsächlich alles schöner?

Ach, solche Aussagen sind immer auch davon gefärbt, dass man zu der Zeit selbst anders drauf war. Ob es früher charmanter war? Ich weiß nicht. Das hängt sicherlich davon ab, aus welcher Perspektive man darauf schaut. Für viele ist mit dem Ende des „alten“ Ruhrgebiets, also mit dem Ende der Zechen oder Stahlwerke, viel Vertrautheit verloren gegangen. Ich kam aber auch nicht aus dem klassischen Kohle- oder Stahlhaushalt, daher hat mich das nicht so betroffen. Und für mich ist eigentlich alles prima gelaufen. Aber es gibt eben auch Menschen, bei denen das nicht der Fall war.

Wird vieles von damals einfach verklärt?

Total. Aber das macht eigentlich jeder und immer, und das ist auch kein Ruhrgebiets-typisches Phänomen. Irgendwann werden unsere Kinder auch die derzeitige Zeit mit der Pandemie verklären und fragen: Weißt du noch damals, die tollen anderthalb Jahre, die wir zu Hause vorm Rechner verbringen durften?

Frank Goosen (Foto: Martin Steffen)

In Ihrem Buch gibt es auch die Geschichte, in der Sie sich an ihren Kinobesuch in „Zurück in die Zukunft“ erinnern. Wenn man Ihnen heute einen DeLorean, also eine Zeitmaschine hinstellen würde – wären die Achtziger das Ziel?

Diese Zeit würde ich mir sicherlich noch mal anschauen. Aber vorher würde ich ins London der sechziger Jahre reisen. Denn ich weiß, in welchen Clubs die Beatles damals abgestiegen sind. Denen würde ich dort auflauern und ihnen Gespräche aufzwingen. Und ich würde dort gerne den Auftritt von Jimmy Hendrix sehen, als er Anfang Juni 1967 die erste Coverversion des Beatles-Songs „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ gespielt hat. Nur wenige Tage, nachdem die Platte erschienen ist.

Ich hätte gedacht, Sie hätten vielleicht doch gerne noch einmal die Sprengung der Schlegl-Brauerei miterlebt, wie sie es in Ihrem Buch beschreiben.

Ich war nie Schlegl-Trinker. Aber ich habe mich immer gefragt, warum ich mir das nicht angeschaut habe. Da wird so ein Gebäude ein paar Hundert Meter von mir entfernt in die Luft gesprengt, und ich gehe nicht hin. Das ist mir bis heute ein Rätsel.

„Im letzten Spiel der Saison, in dem der Aufstieg wahr gemacht werden könnte, bei schönem Wetter und einem Stadionbier, da wäre ich schon gerne dabei.“

Frank Goosen über seinen Herzensverein VfL Bochum

Um mal zurück in die heutige Zeit zu springen. Der VfL Bochum, Ihr Herzensverein, spielt gerade um den Aufstieg in die erste Fußball-Bundesliga und Ihr neues Buch ist erschienen. Eigentlich eine schöne Zeit, wenn nicht gerade Corona wäre, oder?

Das stimmt. Wobei ich glaube, dass der VfL auch deshalb so gut spielt, weil es die Pandemie gibt und keine Zuschauer zugelassen sind. So etwas kann ja auch unheimlich viel Druck von Spielern, vom Verein allgemein nehmen. Und wenn das so weitergeht, können die Maßnahmen von mir aus noch länger anhalten (lacht). Aber im Ernst: Ich hoffe natürlich, dass die Pandemie so schnell wie möglich beendet ist. Viele Menschen sterben, viele sind in ihrer Existenz gefährdet – es ist eine schlimme Zeit.

Sie würden die Erfolge aber schon lieber mit Tausenden anderen im Stadion feiern als vor dem Fernseher?

Im letzten Spiel der Saison, in dem der Aufstieg wahr gemacht werden könnte, bei schönem Wetter und einem Stadionbier, da wäre ich schon gerne dabei. Aber das wird – wegen der Pandemie – höchstwahrscheinlich nicht passieren.

Wie sehr schmerzt Sie der Ausfall von Veranstaltungen und allgemein der fehlende Kontakt zum Publikum?

Sehr, aber ich bemühe mich, Kontakt zu halten. Ich mache ja spezielle Livestream-Lesungen, zum Teil mit Publikumsbeteiligung, auf dringeblieben.de und auf streamfood.tv. Und ich bin der Meinung, dass alles, was man online macht, das Ziel haben sollte, die Distanz zwischen Publikum und Künstler zu verringern.

Ist diese Distanz zwischen Publikum und Künstler, die Sie angesprochen haben, bereits spürbar?

Ich denke, die Menschen vermissen allgemein das Live-Erlebnis, dieses Gefühl: Wir fahren zu einer Veranstaltung, stehen zusammen im Foyer und nach der Veranstaltung redet man vielleicht sogar noch mit dem Künstler und geht etwas trinken. Dieses ganze Drumherum, was das alles ja auch so besonders macht, fehlt enorm. Ich selbst merke eine unglaubliche Solidarität mir gegenüber. Mich erreichten immer wieder Nachrichten, ob man mich nicht unterstützen könne, weil Veranstaltungen ausfallen.

Was antworten Sie darauf?

Ich lehne das ab. Natürlich möchte ich Geld verdienen, aber ich möchte dafür auch arbeiten. Deshalb verweise ich auf meine Livestream-Lesungen „Goosen und Gäste – Unterhaltung mit Büchern“, die kostenpflichtig sind. Aber um noch einmal auf das Thema Distanz zurückzukommen. Ich finde, diese Solidarität, die ich und auch andere gerade erleben, vertieft das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Publikum und Künstler ungemein und ist praktisch das Gegenteil von Entfremdung. Und eines ist auch klar: Wenn die Krise irgendwann vorbei ist, wird es ein riesiges Fest geben. Die Leute werden irre Spaß daran haben, dieses Gemeinschaftsgefühl endlich wieder zelebrieren zu können.

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