Armin Laschet, CDU-Chef und nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, wird bei der Bundestagswahl im Herbst als Kanzlerkandidat der Unionsparteien an den Start gehen. Stellvertretend für 20 deutsche Straßenzeitungen hat Annette Bruhns, Chefredakteurin des Hamburger Magazins „Hinz&Kunzt“, den 60-Jährigen zum Gespräch getroffen.
Herr Laschet, die Zahl der Obdachlosen wächst exponentiell: Sie hat sich in Hamburg genauso verdoppelt wie im kleinen Rain am Lech. Nehmen Sie diese Verelendung wahr?
Ja, das ist ein Problem, an dem Politik arbeiten muss. Ich selbst bin seit Jahren mit einer Wohnungslosen-Initiative in Aachen verbunden, Café Plattform. Da merkt man, dass es nicht nur um die Frage geht, ob eine Wohnung da ist oder nicht, sondern um sehr individuelle Lebensgeschichten. Wir brauchen mehr als nur ein Wohnungsbauprogramm, um Menschen da herauszuhelfen.
Die Verelendung ist auch ein Ergebnis von Armutszuwanderung: Mehr als zwei Drittel der Betroffenen haben einen EU-Pass – aber keinen deutschen. Sie haben 2014 gesagt, die EU sei keine „Sozialunion“; der Staat solle Arbeitsmigrant*innen nicht dieselben Sozialleistungen bieten wie Deutschen. „DrOBs“ aus Dresden wirft Ihnen vor, dass Ihr Ansatz das Problem noch verschärft habe …
… ich habe nur das europäische Recht erläutert. Für soziale Leistungen ist zunächst der Mitgliedsstaat zuständig, aus dem jemand stammt. Man kann zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kommen, aber man kann nicht einwandern und sofort Leistungen in Anspruch nehmen. Das ist nicht das Konzept der Europäischen Union.
Aber was soll dann geschehen, damit Wanderarbeiter*innen nach Einsätzen in der Landwirtschaft oder auf Baustellen, die zu keinen Sozialleistungen berechtigen, nicht auf der Straße landen?
Die Obdachlosigkeit nimmt nicht nur durch Zuwanderung aus Mittel- und Osteuropa zu …
… sagen wir es so: Die wenigen Zahlen, die wir haben, legen nahe, dass Zuwanderung entscheidend dazu beiträgt. In Hamburg waren 2009 mehr als 70 Prozent aller Obdachlosen deutsch. Bei der letzten Zählung, 2018, hatte sich die Zahl fast verdoppelt – und zwei Drittel waren Nicht-Deutsche.
Der Ausweg kann nicht sein, dass jeder, der innerhalb der Europäischen Union einreist, automatisch Anspruch auf Leistungen hat. Das würde das deutsche Sozialsystem überfordern.
Welche Lösungen schlagen Sie vor?
Dortmund hatte das Problem massiv: mit vielen Menschen, die in illegale, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse vermittelt worden waren. Sie wurden teilweise in Schrottimmobilien untergebracht, manchen wurden Kreditkarten und Pässe abgenommen. Kurz: Es gab ein kriminelles Umfeld, das eine große soziale Frage zur Folge hatte. Dortmund hat reagiert, indem die Stadt die Schrottimmobilien still gelegt und legale Arbeitsmöglichkeiten geschaffen hat. Tariflohn, Mindestlohn, Arbeitslosenversicherung – all das, was unser Land an Sozialabsicherung vorsieht, muss natürlich auch für legal Beschäftigte aus Südosteuropa gelten.
In vielen Städten werden Obdachlose durch Ordnungsdienste brutal vertrieben. Grundlage sind Straßensatzungen, die „aggressives Betteln“, „Lagern“ und „störenden Alkoholgenuss“ verbieten. Was halten Sie als ehemaliger Integrationsminister von so viel Intoleranz?
Da geht es um schwierige Abwägungen zwischen der öffentlichen Ordnung und der Möglichkeit, sich irgendwo aufzuhalten und sein Leben zu leben. Ich würde mir einerseits eine tolerante Handhabung der Gesetzeslage wünschen, vor allem aber, immer den Menschen im Blick zu behalten, um den es da geht.
Apropos Betteln: Die Finanzexpertin der CDU, Antje Tillmann, hält mindestens die kleinen Münzen für überflüssig. Geben Sie uns hier und heute eine Garantie, dass mit Ihnen das Münzgeld erhalten bleibt?
Ja! Soweit ich das kann und das nicht die Europäische Zentralbank entscheidet. Ich finde selbst eine Ein-Cent-Münze zeitgemäß. Bargeld ist ein Freiheitsrecht.
Das Verfassungsgericht hat gerade Berlins Mietendeckel gekippt: Für das Mietpreisrecht sei der Bund zuständig. Mit welchem Konzept gegen überteuerte Mieten ziehen Sie in den Wahlkampf?
Die Erfahrung aus gut 70 Jahren Bundesrepublik lehrt: Staatlich geplanter und kontrollierter Wohnungsbau führt nicht zu mehr bezahlbarem, menschenwürdigem Wohnraum. Was wir brauchen, ist aus Landes- und Bundesmitteln geförderter Sozialwohnungsbau und dazu Anreize für mehr Wohnungsbau, besonders in überhitzten Gebieten wie Berlin. Der Mietendeckel hat das Gegenteil bewirkt. Es wurde noch nie so wenig in Berlin gebaut wie jetzt. Er war das falsche Mittel für das richtige Ziel: Auch in Metropolen muss für jeden eine Wohnung bezahlbar sein; Menschen sollten nicht aufs Land ziehen müssen.
Was wären das für Anreize? Steuererleichterungen für Vermieter?
Die bräuchte es nicht. Sobald man Flächen ausweist, wo gebaut werden kann, wird auch gebaut. Wohnungsbau ist attraktiv als Anlageobjekt, nur muss man Regeln haben gegen überhöhte Mietkostensteigerungen.
Mehr Einfamilienhäuser bedeuten pro Person deutlich mehr CO2-Ausstoß als andere Wohnformen – trotzdem fördert die Union diesen Traum. Ist das nicht rückwärtsgewandt?
Ich glaube, dass es gut ist, wenn Menschen auch mit kleineren oder mittleren Einkommen die Chance haben, Eigentum zu erwerben. Das Baukindergeld soll dies kinderreichen Familien erleichtern und damit zugleich zur Altersvorsorge beitragen. Welche Flächen in einer dicht bebauten Stadt dafür infrage kommen, muss natürlich die Kommune entscheiden. Aber generell gegen Einfamilienhäuser anzutreten, weil sie CO2-schädlich seien, ist nicht die Politik der CDU.
Armutsforscher wie Christoph Butterwege halten das Baukindergeld aber auch aus sozialen Gründen für eine fehlgeleitete Subvention: Es helfe nicht den Familien, die in Ballungsgebieten keine Wohnung finden.
Das ist ja auch gar nicht die Absicht! Es ist für die Familien gedacht, die theoretisch die Chance hätten, Eigentum zu erwerben, aber nicht zu den Großverdienern gehören. Es ist aber kein Mittel, um Wohnungsnot in einer Großstadt zu lindern.
Eine Kanzlerin Baerbock würde die Steuern und Abgaben für Vermögende erhöhen, um das Geld umzuverteilen. Gehen Sie da mit?
Jetzt geht es doch um die Frage, wie kann und wird es uns gelingen, die Folgen der Pandemie zu bewältigen, wie bringen wir Menschen aus Kurzarbeit, wie erhalten wir Arbeitsplätze und schaffen neue. Das gelingt sicher nicht mit Steuererhöhungen. Das Problem einer Vermögenssteuer ist doch, dass sie besonders den Mittelstand trifft. Also die vielen Familienunternehmen, die Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Das wäre jetzt die falsche Antwort gerade auch für die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in diesen Betrieben arbeiten.
Die Grünen wollen das Ehegattensplitting abschaffen, das nach wie vor die Alleinverdiener-Ehe fördert. Warum sollte die Republik an diesem Steuermodell festhalten?
Erstens entscheiden Ehepaare selbst, wie sie die Familienarbeit aufteilen. Zweitens würde, wenn Sie das so pauschal abschaffen, eine ganze Generation der heute Älteren nachträglich bestraft werden. Deshalb finde ich die Weiterentwicklung des Ehegattensplittings zu einem Familiensplitting gerechter.
Und was bedeutet das für Alleinerziehende?
Ein Familiensplitting würde die Kinder unabhängig vom Status der Eltern steuerlich berücksichtigen. Für Alleinerziehende ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders wichtig. Eine gute Kinderbetreuung ist für sie existenziell, und zwar nicht nur von Ein- bis Sechsjährigen, sondern auch für Grundschulkinder. Wir wollen möglichst bis zum Sommer den Anspruch auf Grundschulkinderbetreuung rechtlich verankern.
Laut Ihrer Partei soll gute Bildung Hartz-IV-Karrieren verhindern. Als Kanzler könnten Sie den Ländern freilich wenig vorschreiben, den Ministerpräsident fragen wir, was bisher falsch gelaufen ist: Woher kommt die große Bildungsungleichheit in Deutschland?
Das ist ein Thema, das mich seit vielen Jahren umtreibt. Ich habe dazu ein Buch geschrieben, „Die Aufsteigerrepublik“. Die eigentliche soziale Frage lautet: Aufstieg unabhängig von der Herkunft der Eltern zu ermöglichen. Das betrifft viele Kinder mit einer Einwanderungsbiografie, wenn die Eltern nicht gut Deutsch sprechen. Aber auch in deutschen Familien mangelt es teilweise an guten Sprachkenntnissen. Deshalb brauchen wir frühkindliche Sprachförderung, Ganztagsangebote – und durchlässige Schulen, die etwa den Wechsel von der Realschule zum Gymnasium jederzeit ermöglichen. Ich kenne viele Karrieren, gerade aus Einwandererfamilien, die in der Hauptschule begonnen und zum Abitur geführt haben. Der Anteil an Abiturient*innen mit Zuwanderungsgeschichte steigt von Jahr zu Jahr.
In der Pandemie wurden Laptops an Schüler in einem Land verteilt, in dem es vielerorts noch an der Mobilfunkversorgung hapert. Wieso rangiert das Merkel-Deutschland in Sachen Netzausbau noch hinter Albanien?
Wir sind da nicht gut genug. In Nordrhein-Westfalen haben wir jetzt Verträge mit den großen Telekommunikationsunternehmen gemacht, um den Ausbau zu beschleunigen.
Ihre Corona-Politik wirkte im Gegensatz zu der ihres bayerischen Amtskollegen Markus Söder schlingernd …
… wieso ist es schlingernd zu sagen, Kinder und Jugendliche sollen wieder in die Kita und Schulen, wenn die Infektionszahlen sinken? Das war der große Streit des Jahres 2020. Für ein Kind, das mit Geschwistern in einer Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnung lebt, ist der Präsenzunterricht die Chance, um den Aufstieg zu schaffen. Wir werden uns nach der Pandemie intensiv um die Kinder kümmern müssen, gerade um diejenigen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, damit kein Kind aufgrund der Pandemie zurückbleibt. Meine Haltung war klar: Neben den Inzidenzzahlen müssen auch die Schäden in den Blick genommen werden, die Schulschließungen anrichten. Dieses Jahr hatten wir eine Phase mit explodierenden Infektionszahlen, mit der britischen Mutante sogar mit höheren Ansteckungsraten bei Kindern. Da muss man eine andere Antwort geben als im Jahr zuvor.
Der umstrittene Ex-Verfassungsschef Hans-Georg Maaßen hat auf Twitter schon Corona mit Grippe verglichen. Was bedeutet seine Bundestagskandidatur für Ihre Kanzlerkandidatur?
Gar nichts. Corona ist gefährlich. Tausende Menschen haben ihr Leben verloren wegen dieser Pandemie. Punkt. Ansonsten gehe ich davon aus, dass Herr Maaßen seinen Beitrag für den Erfolg der Union leisten wird. Wir werden mit der AfD weder reden noch kooperieren, diese Regeln gelten auch für Herrn Maaßen. Das weiß er auch. Im Übrigen hat der Bundesparteivorsitzende keinen Einfluss auf die Wahl der Kandidaten in den 299 Wahlkreisen.
Ihr Konkurrent Olaf Scholz hat uns auf die Frage, was aus ihm würde, wenn er nicht siegt, geantwortet: „Ich werde Kanzler.“ Wie ist das bei Ihnen, würden Sie auch nach Berlin gehen, um die Opposition anzuführen?
Das ist doch mal eine originelle Antwort. Ich werde Kanzler.
Von Annette Bruhns